Von Jörg Stock
Zu Dachdeckern muss man fast immer aufschauen. Erst recht, wenn sie auf Pirnas Marienkirche sitzen. Doch heute wage ich einen Trick: Ich darf ausnahmsweise auf den Baukran klettern. Ich bin bei Leitersprosse 77, da habe ich die Handwerker drüben auf ihren Dachlatten schon überholt. Doch über mir ist kein Ende in Sicht. Weiter und weiter greife ich in die alten Rippen des stählernen Lulatsches, die von Rostpocken und Mörtelklecksen übersät sind. Der Wind hält den Atem an, zum Glück. Nach 135 Sprossen krabbele ich endlich, mit lahmen Armen, durch den Drehkranz des Auslegers auf die Plattform. Zu meinen Füßen, unter dem Streckmetallgitter, sind rund fünfzig Meter Luft.



Daniel Weber, Dachdecker der Firma Quittel aus Weinböhla und Vorarbeiter auf dieser Baustelle, ist schon da. Ganz locker steht der junge Mann in seiner schwarzen Cord-Kluft am Geländer, der Grenze zum freien Fall, und raucht. Die Gelegenheit ist günstig. Unten auf dem Dach, das innerlich ein gigantischer Dom aus Holz ist, darf man an offenes Feuer nicht mal denken.
Der Dachdecker schaut auf sein Projekt hernieder. Achthundert Quadratmeter Marienkirchendach müssen er und seine Leute erneuern. Nach langer Winterpause hat die Kolonne am Freitag voriger Woche mit dem Einmörteln der Biberschwänze begonnen. Wenn man unten auf dem Dach steht, sagt Daniel Weber, sieht das Geschaffte schon ganz schön viel aus. „Aber von hier oben betrachtet, ist es fast ein Witz.“
Biberschwanzpaten gesucht
Eigentlich wirkt das Dach schon fertig. Wo im Herbst noch die schmutzigen, alten Steine aus den 1950er-Jahren lagen, glänzt nun alles frisch und rot. Doch der Schein trügt. Die Biberschwänze sind nur lose in die Lattung eingehängt. Kleine Nasen und ihr eigenes Gewicht halten sie in Position. Das ist zwar besser als die Planen, die während der Dachstuhlreparatur die Fläche bedeckten. Aber sturmsicher ist das nicht.
Befestigt werden die neuen Steine – es müssen um die 35 000 Stück sein – denkmalgerecht im Mörtelverfahren. Jeder Ziegel wird einzeln in die Dachhaut eingemauert. Dazu braucht man Plusgrade. Deshalb konnten die Dachdecker vorige Woche loslegen. Zuvor war das Kirchendach noch schneebedeckt. In der Kehle zwischen Dach und Sakristei lag ein guter Meter weiße Pracht, sagt der Vorarbeiter.
Eingemörtelt wird mit System, das vom Krangipfel aus gut erkennbar ist. „Wir fangen unten rechts an und enden irgendwann oben links“, erklärt Daniel Weber. Die grauweißen Schatten der Mörtelfugen markieren den bereits befestigten Bereich. Augenblicklich ist es nur ein kleines Dreieck. Diagonal gestaffelt, arbeiten sich die Dachdecker nun immer weiter vor.
Was genau die Handwerker mit den Steinen machen, lässt sich aus Vogelsicht schwer ausmachen. Also runter vom Kran und rauf aufs Dach. Diesmal muss ich nicht klettern. Wir nehmen den Lift, der direkt zum Mundloch der Baustelle rattert. Durch ein Dachfenster, dessen knappe Ausmaße ich schmerzhaft am Kopf spüre, geht es hinaus auf die gewaltige Schräge.
Hinter einem Schneefanggitter balancieren wir zu den Arbeitern. Bei einem Absturz würde uns das benachbarte Dach der Sakristei stoppen. Weiter oben sind Fanggerüste installiert. Trotzdem: Hat man als Dachdecker nicht doch Angst vor dem Fall? Vorarbeiter Weber schüttelt seinen kurzgeschorenen Kopf. Ein Straßenwärter zum Beispiel kann ja auch nicht die ganze Zeit Angst davor haben, überfahren zu werden. „Jeder Beruf hat seine Risiken“, sagt er.
Die Männer von Webers Kolonne stehen über uns in den Dachlatten. Jeder hat sich einen Fleck freigeräumt, die losen Steine auf eine improvisierte Ablage gestapelt. In Reichweite hängt ein kreisrunder Bottich, das „Dachfass“, mit dem Mörtel. Es ist kein gewöhnlicher Mörtel, sondern ein Spezialbaustoff für Dachdecker. Er enthält Fasern. Die machen den Mörtel elastisch und verhindern, dass er reißt. Die Fugen werden jahrzehntelang Wind und Wetter trotzen müssen. Da dürfen sie nicht beim ersten Ansturm zerbröseln.
Wolfgang Meschwitz, der Altgeselle aus Meißen, hat den höchstgelegenen Arbeitsplatz. Und auch die meiste Routine beim Mörteln. Mit 16 wurde er Dachdecker, jetzt ist er 61. Der Beruf ist nicht immer leicht, sagt der drahtige Handwerker. Aber heute geht es, sagt er, denn heute ist Sonne, und man arbeitet auf dem angeblich größten sächsischen Kirchen-Süddach.
Und wie muss nun ein gut gemörteltes Stück Dach aussehen? „Na, möglichst nicht so verkleckert“, sagt Altgeselle Meschwitz, und stichelt damit gegen seine jungen Kollegen. Dann nimmt er einen Stein, streicht mit einer fließenden Bewegung seiner schmalen Kelle Mörtel auf eine Kante – Fuge aufziehen nennt man das –, klatscht einen schnurgeraden Mörtelstreifen, den Querschlag, auf die Unterlage, einen weiteren runden Klecks, den Stützschlag, dazu, und dann passt er den Stein mit einem einzigen Handgriff ein. Überflüssigen Mörtel abstreichen – fertig! Das Werk von Sekunden. Ob er das noch einmal machen kann? Etwas langsamer? Fürs Foto? Da ist der Handwerker ratlos. „So mach’ ich das ja nun mal“, brummelt er. Langsamarbeiten, das ist einfach nicht sein Ding.
Das ist niemandes Ding an der Marienkirche. Eile ist geboten. Eigentlich sollte die Süddachsanierung schon voriges Jahr erledigt sein. Der Winter hat das vereitelt. Nun wurde das Finale auf Ende April verschoben. Doch jeder Tag, den die Baustelle in Betrieb ist, kostet Geld. Wer der Gemeinde helfen will, das zu bezahlen, kann sich symbolisch einen der neuen Biberschwänze kaufen. Für zehn Euro wird der Name des Spenders auf die Innenseite des Steins geschrieben. Tausend Steine sind im Angebot, sagt Kirchner Thomas Albrecht. Etwa zweihundert haben bereits einen Paten.