Spaziergang in den Krieg

August 1939. Herrlicher Spätsommer. Sonnige Tage, helle, klare Nächte. Der Schütze Marcel Weise aus Pirna liegt, müde von der Wache, auf einer Wiese und schläft, bis umherstreunende Kinder ihn wecken. Es könnte kaum friedlicher sein. Doch "es riecht nach Krieg", notiert Weise in sein Tagebuch. Dann kommt der 1. September. Raustreten zum Appell! "Mit Begeisterung hört die Kompanie die Nachricht vom Feldzug", schreibt Weise. "Keiner aber weiß, welch schwere Zeit auf ihn zukommt."
Von der "schweren Zeit" hatte der Uhrmacher Marcel Weise, damals 26 Jahre alt und frisch verheiratet, selber keine Vorstellung. Den Satz formulierte er erst als Greis. Anfang der 2000er formte Weise aus den Stichworten, täglich vermerkt im Notizbuch, das in seiner Uniformjacke steckte, einen Bericht. Dazu klebte er Fotos, aufgenommen mit der simplen Zeiss-Klappkamera, die sechs Jahre lang an seinem Koppel hing.

Was Marcel Weise zum Schreiben trieb, weiß sein Sohn Gert, heute selbst fast achtzig, nicht genau. Vielleicht waren es die Aufzeichnungen seines Vaters Eugen, Gründer der Pirnaer Uhrmacherdynastie, der im Ersten Weltkrieg für den Kaiser nach Russland zog. Eugens Memoiren blieben Stückwerk. Marcel wollte es wohl besser machen. Das hat er geschafft, gerade noch rechtzeitig, bevor ihn ein Schlaganfall ereilte. Als er 95-jährig starb, war das 132-seitige Protokoll seiner Kriegserlebnisse sauber abgeheftet.
Statt in die Kaserne in den Ballsaal eingerückt
Beim deutschen Überfall auf Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, hatte Marcel Weise nur ein Minimum militärischer Erfahrung. Geboren 1913, gehörte er zu den sogenannten weißen Jahrgängen, also zu jenen Männern, die von der Wehrpflicht des Kaiserreichs nicht mehr erfasst worden waren. Nachdem die Dienstpflicht ab 1935 wieder galt, erhielten diese Jahrgänge eine Kurzausbildung. 1938 diente Marcel Weise acht Wochen bei der Infanterie in Löbau, wo er sich, laut Entlassungszeugnis "sehr gut" führte.

Am 26. August 1939, sechs Tage vor Kriegsbeginn, wird Marcel Weise eingezogen. Das Unheil liegt längst in der Luft. Hitler fordert Danzigs Einverleibung ins Reich und eine Schneise durch den polnischen Korridor für Autos und die Eisenbahn. Eigentlich aber will er Krieg und "Lebensraum im Osten". Es wird mobil gemacht. Marcel Weise rückt zum Infanterie-Regiment 414 in die "Neue Welt" nach Zwickau ein. Es ist keine Kaserne, sondern ein illustres Ballhaus, mit 3.000 Plätzen der damals wohl größte Tanzsaal Sachsens.
Das Uniformgrau lockt die Mädchen an
"Bis zum Abend tauschten wir unser Zivil gegen die Uniform", berichtet Marcel Weise. Beim anschließenden Stadtbummel entdeckt er die anziehende Wirkung des Feldgrau auf die Mädels. Sie wollen die Soldaten abschleppen, ins Kino. "Aber das brauchten wir nicht, denn unsere Tage in Zwickau waren gezählt." Zurück auf dem Tanzboden ist Weises Bett, wie in so vielen Nächten des kommenden Krieges, nichts als blankes Stroh.

Am 2. Kriegstag, dem 2. September 1939, früh 5 Uhr, beginnt das Verladen. Aber es geht nicht nach Osten, sondern in die andere Richtung, an den Westwall, jene Linie aus Bunkern und Betonhöckern, mit der Hitler die Grenze am Rhein befestigen lies. Nach der Aggression gegen Polen erklärt Frankreich Deutschland den Krieg. Marcel Weises Regiment soll helfen, im Falle eines Angriffs, die Franzosen zurückzuschlagen.
Unterm Tschingderassabum der Regimentskapelle ziehen die Kolonnen zum Bahnhof. Ein Menschenspalier säumt die Straße, jubelnd, winkend, mit Hüten und Taschentüchern. Dazwischen sieht Marcel Weise alte Frauen stehen, die weinen. "Sie haben schon einmal die Schrecken des Krieges erlebt, wir aber sind froh gestimmt..."

Mit der Eisenbahn geht es bis Darmstadt. Dann wird gelaufen. Das Regiment ist praktisch eine Fußtruppe. Pro Kompanie gibt es nur ein Auto. Den Tross ziehen Pferde. Mann und Ross dampfen unter der sengenden Sonne. Trotzdem fühlt sich der Marsch für Marcel Weise wie ein Triumphzug an. Wo auch immer die Einheit auftaucht: Jubel und Liebesgaben in rauen Mengen, kannenweise Kaffee, Bretter voller Pflaumenkuchen, Weintrauben, Semmeln, Zigaretten. "Unsere Brotbeutel sind schon voll von Schokolade und Obst", notiert er. "Die Begeisterung ist unbeschreiblich."
Stationiert wird das Regiment in Pfungstadt, Südhessen. Hundert Kilometer sind es noch bis zur Bunkerlinie. Die halben Soldaten, so scheint es, sollen in sicherem Abstand zu ganzen ausgebildet werden. Marcel Weise, der eigentlich das bleischwere Maschinengewehr 08 schleppen muss, hat Glück. Er wird auf eine Klitsche abkommandiert, Munition bewachen.

Und wieder gibt es ohne Ende Extrawürste von den Einheimischen. Eine Frau kommt Strümpfe stopfen, ein Mann bringt eine Leiter, damit Weises Trupp auf Posten besser von seinen Pfirsichen "klauen" kann. Weise rührt die schier unbegreifliche Liebe der Rheinländer zu den Sachsen. "Uns fehlt es hier an nichts", berichtet er. "Das ist ein Leben wie im Schlaraffenland."
Lustiges Soldatenleben mit Ausfahrt und Bad
Dann beginnt der Dienst. Märsche, Schießen, Übungen im Feld wechseln sich ab. Marcel Weise mag seinen Kompaniechef, Hauptmann Schneider. "Ein Grund seiner Beliebtheit war, dass er die Übungen meist vor 12 Uhr beendete und wir am Nachmittag frei hatten." Die Soldaten unternehmen Spazierfahrten zum Rhein mit der Pferdekutsche des örtlichen Bäckermeisters, oder sie gehen ins Schwimmbad von Pfungstadt. "So macht das Soldatenleben Spaß."

Am 19. September 1939 hört Weises Kompanie Hitlers Radioansprache aus Danzig. Der Diktator preist die Wehrmacht für ihren "Feldzug der 18 Tage". Polen ist praktisch besiegt, und Frankreich hält still. Anfang Oktober übt Marcel Weises Kompanie zum letzten Mal in den Wäldern bei Pfungstadt. "Die Gedanken wandern nach daheim", schreibt er in sein Notizbuch. Doch das Regiment hat bereits einen neuen Auftrag: Besatzungstruppe in Polen zu werden.
Als nächstes in dieser Serie: Trümmer, Schlamm und Ärmlichkeit - Marcel Weise als Besatzungssoldat in Polen.
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