Die letzte Schlacht

Unwirklich schön kommt es ihm vor, dieses Federbett, das in einem Siebenbürger Bauernhaus steht. Mehr als ein Jahr hat Marcel Weise nur auf Stroh geschlafen. Wenn überhaupt. Ansonsten im Gelände. Ein Glück, dass er die abgewetzte Uniform in den Marschpausen immer wieder ausgekocht hat, so notiert er ins Tagebuch. Flöhe und Wanzen lassen ihn vorerst zufrieden. „Ich konnte mich also ruhigen Gewissens in das weiße Bett legen.“
September 1944: Der Sanitätsunteroffizier Marcel Weise, Uhrmacher aus Pirna an der Elbe, ist mit knapper Not den sowjetischen Angriffskeilen in Rumänien entkommen und hat nach einem einsamen Marsch durch die Karpaten seine Einheit wiedergefunden. Das Bau-Pionier-Bataillon 217 liegt im östlichsten Zipfel Ungarns: Nordsiebenbürgen. Den Landstrich, eigentlich zu Rumänien gehörig, hat sich Ungarn mithilfe des Deutschen Reichs einverleibt.

Das bis kürzlich mit Hitlerdeutschland verbündete Rumänien hat dem Reich inzwischen den Krieg erklärt. Damit Ungarn nicht auch noch von der Fahne geht, hat Hitler das Land im März 1944 okkupieren lassen. Der Diktator braucht Ungarn. Es beherbergt Kohle, Metalle und vor allem Ölquellen, die letzten unter deutscher Kontrolle. Ohne Öl kein Kampf. So wird die Front in Ungarn eine der wichtigsten im Endstadium des Zweiten Weltkriegs.
An dieser Front befindet sich nun der 31-jährige Marcel Weise. Der Krieg, den er vom ersten Tage an mitgemacht und in seinem Tagebuch protokolliert hat, ist verloren, das weiß er längst. Paradoxerweise erlebt er die erträglichsten Tage, seit er im Osten kämpft, kurz vor dem Untergang, bei den Siebenbürger Sachsen mit dem weißen Bett.

Die Wirtin, die mit Tochter und Schwiegersohn in dem Blockbohlenhaus lebt, umsorgt den einquartierten Deutschen wie einen Sohn, wäscht ihm die Sachen, bekocht ihn. Ihre Fürsorge wird wohl durch Weises erbärmliche Erscheinung verstärkt. Rückzugsgefechte und Gewaltmärsche haben in ausgezehrt. „Die Uniform schlabberte nur so am Leib“, notiert er. „Ich war buchstäblich abgemagert.“
Zum Abschied Pfannkuchen ins Kochgeschirr
Die Atempause entsteht, weil Weises Einheit aufgefrischt werden muss. Bei den Kämpfen in Rumänien waren die Verluste hoch. Von ehemals 120 Mann seiner Kompanie sind noch 42 kampfbereit. Während des Wartens auf Ersatz hilft Marcel Weise seiner Wirtin im Garten. Zum Abschied stopft sie ihm das Kochgeschirr mit Pfannkuchen voll. Weise macht ein Bild mit seiner treuen Zeiss-Klappkamera. Als Hintergrund wird extra ein schöner Teppich über das Geländer der Veranda gehängt.

Anfang Oktober bricht der Widerstand der Wehrmacht in Siebenbürgen zusammen. Sowjetische Divisionen fluten die Ungarische Tiefebene. Marcel Weises Einheit macht das, was sie schon in Russland, in der Ukraine und in Moldawien gemacht hat: Sie baut Stellungen, die, kaum fertig, schon wieder aufgegeben werden müssen, weil sowjetische Panzer anrollen. Einmal fliegt Weises Kompanie ein Uhr nachts aus ihrem Lager und marschiert bis zum nächsten Abend, über achtzig Kilometer weit.
Ende Oktober 1944 eröffnet die Sowjetarmee die Schlacht um Budapest. Weises Truppe weicht hinter die Donau zurück. Den Heiligen Abend verbringt er siebzig Kilometer westlich von Budapest, nahe Székesfehérvár. „Die Artillerie brachte uns in der Ferne die Weihnachtsmusik.“ An diesem Tag wird Budapest vollständig umzingelt. Mehr als siebzigtausend Mann, deutsche und ungarische Einheiten, sind eingeschlossen.

Bisher ist Marcel Weise der Gefangennahme entgangen, oft nur knapp. Um keinen Preis will er der Sowjetarmee in die Hände fallen. Anderen ist die Gefangenschaft offenbar lieber, als von der eigenen Führung verheizt zu werden, wie Weise bei einem sowjetischen Angriff beobachtet: „Zwei Kameraden hatten zu viel Wein getrunken. Oder wollten sie desertieren? Sie blieben auf der Wiese liegen und ich konnte noch sehen, wie einige Russen sie mit den Füßen in die Seite stießen.“
In der Kampfpause den Regulator repariert
Die „Operation Frühlingserwachen“, mit der die Deutschen im Februar 1945 die Rote Armee über die Donau zurückwerfen wollen, bleibt stecken. Am 16. März treten die Sowjettruppen zum Gegenstoß an. Es ist der Auftakt zur Eroberung Wiens. Die Offensive trifft auch Marcel Weise, der einige Tage ruhig in der kleinen Weinstadt Mór verbracht hat und sogar wieder ein bisschen Uhrmacher war, indem er den Regulator seiner Quartiersleute reparierte.

Wieder treiben sowjetische Panzer die Deutschen vor sich her. Als Weise aus einem Graben bei Györ flüchtet – die sowjetischen MPi-Schützen sind nur noch fünfzig Meter weit weg – passiert es: „Plötzlich spüre ich einen Stoß im linken Bein und falle zu Boden.“ Ein Kamerad schleppt ihn bis zum nächsten Dorf mit.
Das Projektil steckt in Weises linkem Oberschenkel. Er will zum Arzt. Aber der ist tot. Von einer Granate getroffen. So muss sich Weise auf eigene Faust einen Verbandplatz suchen. Auf zwei Stöcken, die er aus einem Weinfeld mitnimmt, humpelt er los, fährt auf Panzerwagen und auf Bauernkarren mit. Das Blut löst immer wieder die Pflaster auf der Wunde. „Ich lasse es bluten.“ Einen Verbandplatz findet der Verletzte nicht. Alle sind getürmt. Nach acht Kilometern Fußmarsch erreicht er einen Bahnhof, auf dem bald, wie durch ein Wunder, ein Lazarettzug einfährt.

Am 25. März, seinem 32. Geburtstag, erreicht er endlich das Lazarett in Wien. Aber das wird gleich evakuiert. So kommt Weise ins Reservelazarett in den Kurort Bad Schallerbach in Oberösterreich, bekannt für sein Schwefelthermalwasser. Da hat schon der April begonnen. Die Wunde hat sich inzwischen geschlossen. Die Kugel bleibt, wo sie ist. Am 21. April entlässt man Weise als „bedingt kriegsverwendungsfähig“.
Hastige Flucht zu den Amerikanern
Nun bezieht er wieder eine Stellung, seine letzte, östlich Linz, auf freiem Feld. Linz, Hitlers Lieblingsstadt, wird gerade von den US-Truppen eingenommen. Und vor Weises Graben steht die Rote Armee. Es ist ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm? Der 8. Mai bricht an. Es ist ein sonniger Tag. „Da taucht der Hauptmann auf und ruft uns zu: Kameraden, ihr seid vom Fahneneid entbunden. Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt.“
Weise will nur eins: zu den Amerikanern. Von Lastwagen zu Lastwagen springend, hastet er dem Fluss Enns zu, hinter dem das amerikanische Besatzungsgebiet beginnt. Am Mittag rollt er auf die Flussbrücke und sieht amerikanische Wachposten. „Ich atme auf. Ich habe den Krieg überlebt. Bald werde ich daheim sein.“
Im 8. und letzten Teil der Serie lesen Sie: Der Weg nach Hause. Wie Marcel Weise im Frieden ankam.