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Michelle und das gelbe Insulin-Handy

Bekommt ein Kind Diabetes, ist das ein Schock. Dr. Sabine Kahleyss ist am Meißner Elblandklinikum Spezialistin dafür.

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© hübschmann

Von Anna Hoben

Für Michelle hat Essen immer mit Rechnen zu tun. Sie kennt die Zahlen genau. Ein Teller Spaghetti mit Tomatensoße? Eine Fünf. Ein belegtes Brot mit Käse? Eine Zwei. Eine Banane? Ebenfalls eine Zwei. Ein Glas Saft? Eine Eins oder eine Zwei. Die Zahlen bezeichnen die Anzahl von Kohlenhydrateinheiten (KHE), die in den Lebensmitteln enthalten sind. KE ersetzen die frühere Berechnungsgrundlage BE (Broteinheit).

Michelle ist zehn Jahre alt und hat Diabetes. Seit drei Jahren ist ihr Leben ein bisschen anders als das anderer Kinder. Sie selbst erklärt das so: „Diabetes ist eine Krankheit, bei der man oft den Blutzucker messen muss. Wenn der zu niedrig ist, kippt man um.“ Deshalb muss Michelle ganz genau auf ihren Körper achten. Sie muss kontrollieren, was sie isst. Beim Sport muss sie rechtzeitig die Bremse ziehen, wenn sie nicht mehr kann.

Los geht es im Juni 2011. Michelle hat immerzu Durst, ist matt, verliert Gewicht. Nachts muss sie oft zur Toilette, die Augenringe werden länger. Ihre Mutter Nadine Reinhardt geht mit ihr zur Kinderärztin. Die Diagnose: Diabetes, Typ 1 (s. Infokasten). „Es war ein Schock“, sagt die Mutter im Rückblick. Ein Schock, mit dem die Familie zunächst allein gelassen wird. Denn die Kinderärztin erläutert nicht weiter, was jetzt auf sie zukommen wird. Warum unser Kind? Das fragt sich Nadine Reinhardt. Das Klischee sagt: Dicke Kinder sind diabetesgefährdet. Michelle aber ist weder dick noch ernährt sie sich ungesund.

Die Kinderärztin schickt sie ins Meißner Elblandklinikum. Dort arbeitet die Spezialistin für Kinder-Diabetes, Dr. Sabine Kahleyss. Michelle bekommt eine Insulin-Infusion. Und ihre Familie die aufklärenden Worte, die sie so nötig hat. „Ich bin in solchen Gesprächen vorsichtig, aber schonungslos“, sagt Sabine Kahleyss. Die 51-Jährige macht den Eltern von Anfang an klar, dass sich die Lebensweise ihres Kindes grundlegend ändern wird. Und dass das Kind trotzdem von nichts ausgeschlossen werden soll. Manche Eltern weinen, manche laufen aus dem Sprechzimmer, andere verstummen. „Alle diese Reaktionen sind völlig normal“, sagt die Ärztin. Nach der Diagnose behält sie Michelle Reinhardt auf der Kinderstation. Sie wird einige Tage bleiben müssen. „Am Anfang hatte ich Angst“, sagt die heute Zehnjährige, „und mir war langweilig“. Mit der Zeit wird es besser. Jeden Tag kommen ihre Eltern zur Schulung. Ein bis zwei Stunden lang bespricht Sabine Kahleyss mit ihnen Michelles neues Leben. Wie viele Mahlzeiten sie täglich zu sich nehmen sollte. Wie die Kohlenhydrateinheiten berechnet werden. Auf welche Nahrungsmittel Michelle verzichten muss. Fanta und Cola zum Beispiel sind tabu. Diätprodukte, wie die Ernährungsindustrie sie für erwachsene Diabetiker erfunden hat, allerdings auch. Aber: Einmal am Tag etwas Süßes essen ist erlaubt. „Was verboten ist, wird ohnehin heimlich gemacht“, sagt die Ärztin augenzwinkernd. In manchen Situationen – nämlich wenn Michelle extremen Unterzucker hat – können Süßigkeiten sogar gut sein, weil sie für eine schnelle Energiezufuhr sorgen. So wie an diesem Tag in Dr. Kahleyss’ Büro im Untergeschoss des Krankenhauses: Michelle ist ein bisschen aufgeregt, außerdem ist schon Kaffeezeit. Also misst sie ihren Blutzucker: ein kleiner, schneller Pikser in die Fingerkuppe – schon vorbei. Auf dem Messgerät erscheint eine Zahl, übersetzt bedeutet sie: Zeit, etwas zu essen. Michelles Mutter packt eine Tupperdose aus, Michelle wickelt ein Schokoladenbonbon aus dem Papier, lässt es in ihrem Mund verschwinden und grinst.

„Das Wichtigste ist, dass das Umfeld Bescheid weiß“, sagt Sabine Kahleyss. Denn manchmal merkt Michelle nicht, wenn sie unterzuckert ist. Deshalb müssen andere mit aufpassen. „Wenn sie komisch wirkt, sollen ihre Freundinnen sie ruhig anschreien“, sagt die Mutter. Und die Ärztin besuchte extra Michelles Schule, um der Lehrerin des Mädchens zu erklären, wie die Insulinpumpe funktioniert.

Insulin per Knopfdruck

Seit Dezember trägt Michelle diese Pumpe. Bis dahin hatte sie fünfmal am Tag Insulin spritzen müssen. Manchmal hatte ihre Mutter sie sogar nachts dafür wecken müssen. Jetzt muss sie, um den Blutzucker zu regulieren, nur auf einem kleinen gelben Gerät ein paar Tasten drücken. Es sieht aus wie ein Handy und sendet Daten an die Insulinpumpe. Die ist an Michelles Oberarm befestigt und geht über einen weichen Plastikschlauch zwei Millimeter unter die Haut. Seit Michelle auf diese Weise ihr Insulin bekommt, ist alles einfacher geworden. „Die Familie macht das extrem gewissenhaft“, lobt Dr. Kahleyss.

Seit acht Jahren behandelt die 51-Jährige am Meißner Elblandklinikum Kinder mit Diabetes. Sie mag die Arbeit mit Kindern, die Entscheidung dafür fiel schon während ihres Studiums in Leipzig. „Kinder sind so ehrlich, sie zeigen einem direkt, ob sie einen mögen oder nicht.“ Jeden Tag trägt sie dazu bei, die Lebensqualität eines Kindes zu verbessern. So wie bei Michelle. Eigentlich ist deren Leben heute fast normal. Erst vor Kurzem ist sie beim Leichtathletik-Crosslauf Erste geworden.