Von Carina Brestrich
Die Festung Königstein glüht. Die gleißende Hitze ist schuld. Sie hat die metallene Miniaturausgabe der Anlage ordentlich auf Temperatur gebracht. Und doch wimmelt es auf dem Modell nur so von Händen. Zehn Stück sind es genau. Dazu noch mal genauso viele, die sie behutsam lotsen. Das ist das Prinzip. Das Prinzip der ganzen Reise, die die kleine Gruppe für eine Woche nach Berlin, Leipzig, Dresden und an diesem Tag auf die Festung Königstein führt: Fünf Sehende helfen fünf Blinden. Für alle zehn ist es Urlaub. Für die Hälfte von ihnen obendrein noch Sprachtraining. Denn zum ersten Mal sind auch Engländer dabei.


Alle zusammengebracht hat Laura Kutter. Vor drei Jahren gründete die studierte Tourismusmanagerin mit ihrer Schwester „Tour de sens“, zu Deutsch „Tour der Sinne“. Das Stuttgarter Unternehmen ist das, was man heute ein Start-up nennt: jung, stetig wachsend und mit einer innovativen Geschäftsidee, nämlich Blinden oder Sehbehinderten autonomes Reisen zu ermöglichen. Und zwar durch die Hilfe von Sehenden, die sie unterstützen, indem sie bei der Orientierung helfen, das Gesehene beschreiben und dadurch selbst mit allen Sinnen das Urlaubsziel entdecken, erklärt Laura Kutter: „Dabei sind die Sehenden aber keine Betreuer, sondern Begleiter.“ Ein Konzept, für das „Tour de sens“ bereits etliche Preise einheimste.
Beim Erzählen fallen mehr Details auf
Alexandra Schlotterer hält sich, wie auch die anderen Blinden, jeden Tag an einem anderen Oberarm fest. Heute ist es der von Maggie Robinson aus Plymouth in Südwestengland. Alexandra Schlotterer trägt Sonnenbrille, Blindenstock und die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht. Jede Information saugt die Kirchenmusikerin aus der Nähe von München mit Begeisterung auf. Während sie mit den anderen Paaren der Gästeführerin Richtung Zeughaus folgen, erzählt Maggie Robinson auf Englisch, was sie sieht: den Burggraben, der inzwischen mit Gras bewachsen ist. Die langen Gebäude mit den kleinen Fenstern auf dem Dach. Die Stufe an der Tür, die in diesem Augenblick keine Stolperfalle mehr ist.
Als Sehende mit Blinden zu verreisen, sagt Maggie Robinson, sei eine ganz besondere Erfahrung. Die machte sie zum ersten Mal vor fünf Jahren. „Damals war ich single, ich wollte aber nicht allein verreisen und auch nicht mit der klassischen Reisegruppe“, erzählt sie. Inzwischen entdeckt Maggie Robinson jedes Jahr gemeinsam mit Blinden neue Reiseziele. „Wenn man jemandem erklärt, was man sieht, dann schaut man selbst ganz anders auf die Dinge, es fallen einem viel mehr Details auf.“
Zeit zum Fühlen. Das Schild „Bitte nicht berühren“ verliert für einige Minuten seine Gültigkeit. Die zehn Hände gleiten über das kühle Metall der großen Kanone im Zeughaus, Finger tasten Rillen und Verzierungen ab. Gästeführerin Petra Klöden steht daneben, wartet auf Fragen. „Unsere blinden Gäste dürfen solche Exponate natürlich gern anfassen“, sagt sie. Ist das der Vorteil am Blindsein? Anja Lehmann glaubt schon. Beim Reisen komme man zu Orten, zu denen andere nicht dürfen. „Gestern konnten wir den Altar in der Frauenkirche berühren – wer darf das sonst?“
Mehr Anfragen von Blinden
Die 36-jährige Dolmetscherin und Übersetzerin ist von Geburt an blind und liebt das Reisen. Und sie ist dabei gern unabhängig. Die Idee hinter „Tour des sens“ habe Anja Lehmann deshalb auf Anhieb gefallen. Es sei ein partnerschaftliches Reisen, ein Gemeinschaftserlebnis. Und inzwischen treffe man Mitreisende immer wieder. Vor allem aber freut sie sich, dass es Leute gibt, die bereit sind, ihre Eindrücke in Worte zu packen. „Es ist schön, wenn jemand einem seine Augen leiht“, sagt sie. Gern könnten es noch mehr sein, sagt Laura Kutter: „Wir haben momentan mehr Anfragen von Blinden als von Sehenden.“
Manchmal aber braucht es nur ein Ohr. So wie im Brunnenhaus. Ein Mitarbeiter der Festung wartet schon mit einer vollen Gießkanne auf die Gäste. Auf Englisch erklärt Petra Klöden den Brunnen, der die Festung einst mit Wasser versorgte. Sie erzählt, wie Pferde früher um ihn kreisten, um das Wasser 141 Meter nach oben zu befördern. In die Tiefe schauen, das darf die Gruppe schließlich auf ihre eigene Weise. Der nette Herr in der Weste kippt die Kanne mit einem kurzen „Und los“ um. 16 Sekunden Stille. Dann unten ein leises Platschen. Oben ein großes „Ah“.
Zurück nach Dresden wird es für die Reisegruppe später mit der S-Bahn gehen. Auch das gehört zum Konzept, sagt Laura Kutter. „Wir versuchen auf unseren Reisen häufig, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.“ Das Quietschen der Zugbremsen, der freundlich sächselnde Schaffner oder das Rascheln der Einkaufstüte von der Dame auf dem Nachbarsitz – „solche Eindrücke kann kein Reisebus bieten.“