Von Steffen Bistrosch
Weißwasser. Laufen, Werfen und Fahrradfahren können sie ganz gut, die sieben Männer aus dem „Haus am Hain“. Für die Norm des Sportabzeichens hat es gereicht. Und Spaß gemacht. Mehr als immer nur in der Werkstatt zu arbeiten. Bettina, ihre Betreuerin, hatte sie zur Abnahme ins „Stadion der Kraftwerker“ begleitet.
Im Januar dann durften sie in die Schule in der Lutherstraße zur „Sportlerehrung“. Der Redner nannte ihre Namen, sie traten vor auf die Bühne, erhielten eine Urkunde und einen Anstecker. Später beim Buffet sagten sie: „Guter Abend“, und: „schöne Abwechslung“. Sie essen Brötchen, trinken Wasser und Kaffee und Orangensaft. Sie sitzen gemeinsam und doch alleine am Tisch. Sie spüren die Blicke. „Anders als die anderen“. Sie sehen nicht hin, kennen das Gefühl zur Genüge. Das interessiert sie so wenig, wie das Leben, das hinter ihnen liegt. Ob es ein nächstes Mal geben wird, wissen sie nicht. Vielleicht doch, wenn es gute Gründe gibt. Vielleicht nicht, wenn es keine gibt. Vielleicht ist das nicht wichtig. Sie kennen einander. Manche arbeiten gemeinsam in der Werkstatt, andere besuchen sich oder wohnen im gleichen Haus. Manche seit Jahren. Die Türen haben Schlösser. Für alle Fälle. Niemand will ein solcher Fall sein. Trotzdem gibt es sie. Manche mögen sich, andere nicht. Zu unterschiedlich die Interessen, das Alter, die Herkunft, die Ambitionen, die Vergangenheit. Der Jüngste, Pierre, zählt 31 Jahre. Der Älteste, Gerd, ist 58. Sie sind Kraftfahrer, Schlosser, Monteure, Maschinisten gewesen, haben im Tagebau oder im Kraftwerk gearbeitet, bei der Bahn. Gute Jobs.
Sie reden über die Vergangenheit, als wäre es gestern. Und über die Zukunft, als wäre es morgen. Ihr Leben im „Haus am Hain“ ist nicht kompliziert. Es mangelt an nichts, es gibt klare Regeln. Einmal hier, wollen sie bleiben, solange sie müssen. Es liegt nicht nur an ihnen. Mancher wird nie wieder woanders sein. Sie sagen, sie fühlen sich wohl an diesem Ort. Sie wollen nicht fort von hier, sie wollen höchstens mal „raus“.
Das ist gut möglich. Die sieben Männer müssen nur trocken bleiben. Das wissen sie. Eigentlich haben es immer gewusst. Sie sind nicht dumm. Sie sind alkoholkrank.
René wohnt seit vier Jahren hier, inzwischen ist er in der Außenwohngruppe über dem Nettomarkt angekommen. Die Probleme begannen, als die Familie zerbrach. Sein Leben hat hier neu angefangen, über die Zeit dazwischen spricht er nicht gern. Er will keinen Kontakt zu den Leuten von früher. Er war zu DDR-Zeiten im Jugendwerkhof. Jetzt geht er täglich sechs Stunden in die Behindertenwerkstatt arbeiten. Früher, in Crimmitschau, hat er Fußball gespielt, den Sahnpark und die Eispiraten kennt er, Eishockey in Weißwasser leistet er sich mit einer Dauerkarte. Das Sportabzeichen hat er gerne abgelegt. Nicht zum ersten Mal. Bettina, die Betreuerin hatte wieder gefragt, wer mitmachen will. René meint: „Teilnahme ist Pflicht“, die Herausforderungen anzunehmen „ein Bedürfnis“. Er will sich steigern, das Abzeichen in Silber statt Bronze holen. Sein Nachbar Pierre wurde ebenfalls gefragt. Der nimmt alles mit, wenn’s denn geht. Sie werden „es schon hinkriegen“, hat Pierre gedacht und gemerkt: „Wer es nicht beim ersten Mal packt, der kriegt noch eine Chance`.“ Die braucht er. Es gehe nicht um sportliche Höchstleistungen, „Sondern ums Mitmachen“.
Pierre ist erst 31, der Alkohol hat sein Leben kaputtgemacht. Er hat Probleme, seine Bewegungen zu koordinieren. Beim Sprechen sucht er nach den richtigen Worten. Er hat regelmäßig Kontakt zu seiner Mutter und findet alles okay hier.
100 Tage Entzug
Das verstehen seine Mitbewohner. Peter L. lebt schon sechs Jahre hier. Er kam freiwillig, sein Entzug dauerte einhundert Tage, glaubt er sich zu erinnern. Seither ist er trocken. Zu seiner Familie hat er keinen Kontakt, will er nicht. Die drei wissen, weshalb sie hier sind und wollen das Beste daraus machen, in der Außenwohngruppe dürfen sie sich jederzeit frei bewegen.
Gerd kommt aus der geschlossenen Gruppe, dem knapp Sechzigjährigen sind die Alkoholprobleme nicht anzumerken. Seine Bewegungen sind sicher, die Sprache fest und die Schlussfolgerungen scheinen logisch. Er ist seit einem Jahr hier, weil sein Betreuer letztlich erwirkt hatte, dass er eingeliefert wird. Wieder. Das dritte Mal jetzt. Die eigene Kraft reicht nicht, um mit dem Trinken aufzuhören. Als „großen Fehler“, bezeichnet er das. Und er habe den hoffentlich zum letzten Mal gemacht. Gerd hat Kontakt zu seiner Familie, erzählt sogar von einer Freundin. Die soll ihn hier nicht besuchen, sagt er. Er mag in dieser Umgebung nicht gesehen werden. Er hofft, bald nach Hause zu dürfen. Eigentlich wartet er jeden Tag darauf, dass es losgeht. Das Sportabzeichen hat er abgelegt, weil er gefragt wurde. „Aus Eigeninteresse, schon wegen der Abwechslung“. Hier sei „schließlich kein Hotel, obwohl man sich nicht totmacht. Und man hängt mit Leuten zusammen, die in Ordnung sind. Obwohl manche von ihnen Einschränkungen haben.“
Einander helfen ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er besitzt ein eigenes Fahrrad, ist damit in der Gegend unterwegs, vermisst die Berge der Heimat in der Sächsischen Schweiz. Gerd hat früher keinen Sport getrieben, er hatte ein Haus mit Garten und hat viel auf dem Bau „gepfuscht“. Sein Leben hat begonnen, den Bach runterzugehen, als seine Eltern gestorben sind. Eins kam ins andere und jetzt ist er hier.
Wie Udo. Der kam per gerichtlicher Verfügung ins Haus. Er meint, es geht schon. Alle hier wissen, er hatte einen Rückfall. Aus dem Grund darf er sich zurzeit nicht frei bewegen wie sonst. Er ist erst ein gutes Jahr hier, das ist keine Zeit. Manche sind seit mehr als zwölf Jahre hier, weiß Udo genau. Er redet gern, kann das auch, meint er. Er war früher schließlich Mitglied im Astroclub Radebeul, habe dort Vorträge gehalten.
Was bedeutet das Sportabzeichen für die Männer? „Nicht egal“, sagt Pierre. „Stolz und froh“ meint René. Und: „Ohne Teilnahme, ohne den Versuch, kannst du nichts erreichen. Meine Urkunde hängt im Zimmer an der Wand.“ Die anderen lachen ungläubig: „Eher im Schrank“. Rene geht und holt Urkunde und Abzeichen: „Hier!“`
Gerd und Udo bedeutet die Ehrung „etwas“. Als sie nach vorn auf die Bühne gerufen wurden, so meint Gerd, ging ihm durch den Kopf: „Was denken die jetzt über uns Säufer? Aber am Ende ist das egal, die Ursachen, die Hintergründe kennt ja keiner, das siehst du niemanden an.“ Vorurteile machen ihm zu schaffen.
Nie wieder nach Weißwasser
Gerd macht eine Handbewegung in Richtung der Straße, die in die Stadt zum Nettomarkt führt: „Wenn da draußen eine Handvoll Leute in der Schlange steht, wer kann da guten Gewissens behaupten, der trinkt und der nicht? Wenn ich zum Tor reingehe, wird mir mulmig. Was denken die Leute über mich, wenn sie mich sehen?“ Udo sagt: „Du musst denken, du bist ein Besucher“. Sie grinsen. „Wenn das Leben so einfach wäre.“ Gerd fügt hinzu, dass er „raus“ will. Und nach Pirna, er will eine Wohnung, er will zu seiner Freundin, er will Arbeit. Und er will nie wieder nach Weißwasser. Das wollte wohl keiner.
Peter L. sagt zum Schluss, er will einhundert Jahre alt werden, Gerd wieder das Sportabzeichen ablegen, Udo ein Buch über die Sterne schreiben. Und alle wollen trocken bleiben. Das wird nicht einfach. Wie das Leben im Haus am Hain. Der Sport verbindet die kleine Gruppe, Hoffnung alle Bewohner. Sie brauchen Hilfe. Und eine Chance. Manchmal von jemandem wie uns. Warum nicht.