Wohnung in Görlitz, Job in Prag

Hoch oben vor der Prager Burg drängen sich die Touristen. Besonders kurz vor zwölf Uhr mittags. Dann marschieren zwei Dutzend Soldaten mit geschulterten Bajonetten über den Platz und lösen zur Marschmusik die Burgwache ab.
Präsident Václav Havel hatte dieses prunkvolle militärische Zeremoniell auf dem Hradschin 1990 mit extra dafür angefertigten Fantasieparadeuniformen begründet. Es sollte eine humoristische Erinnerung an die K.u.K.-Monarchie sein. „Die heutige Regierung aber nimmt den Wachwechsel ernst“, sagt der Kunsthistoriker Marius Winzeler, der in Prag und Görlitz lebt. Seit 2016 leitet der gebürtige Schweizer die Abteilung Alte Meister der Prager Nationalgalerie. Görlitz, wo er von 2001 bis 2008 im Kulturhistorischen Museum arbeitete, bevor er das Zittauer Museum leitete, ist nach wie vor sein Rückzugsort.
Am heutigen Ort seines Wirkens, im Palais Sternberg nahe der Prager Burg, sind berühmte Gemälde von Rubens, Rembrandt und Dürer, von Lucas Cranach, der Familie Breughel und vielen anderen Meistern zu sehen. Gerade bereitet Marius Winzeler eine Ausstellung mit dem Titel „Böhmen – Sachsen. So nah, so fern“ vor und eine neue Sammlungspräsentation von Meisterwerken böhmischer Künstler im Dialog mit der Kunst aus ganz Europa. „Wir wollen das Spezifische und das Verbindende zeigen“, sagt er. In Ausstellungen europäische Verbindungslinien aufzuzeigen und zu erzählen, wie fruchtbar der spannungsvolle Austausch über die Jahrhunderte war, ist Winzelers Anliegen und ein Ziel der Prager Nationalgalerie, auch wenn dort wegen der plötzlichen Abberufung von Generaldirektor Jirí Fajt gerade einiges in Aufruhr ist.
„Manche Tschechen fürchten, die Kunst ihres Landes könne als zweitrangig und epigonal, als nachahmend verstanden werden“, sagt Marius Winzeler. „Aber diese Angst ist völlig unbegründet.“ Vermutlich hänge sie eher mit einem kulturellen Minderwertigkeitsgefühl zusammen, das in Tschechien wie auch in anderen Ländern Ostmitteleuropas mit dem Wunsch einhergehe, die eigene nationale Identität zu bewahren und gegen eine einheitliche große Gemeinschaft zu stärken.
Und das ist nicht nur so in der Kunst. Da ist zum einen Tschechiens Präsident Milos Zeman, der als Populist gilt und immer wieder mit EU-kritischen und islamophoben Äußerungen hervortritt. Zusammen mit den anderen Staaten der Visegrád-Gruppe, Polen, Ungarn und Slowakei, hat sich Tschechien gegen die Umverteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Länder ausgesprochen. Im vergangenen Sommer lehnte Zeman einen EU-Abgeordneten als tschechischen Außenminister ab, weil der angeblich Angela Merkels Migrationspolitik zu nahestand.
Auf der Kehrseite dieser EU-Skepsis stehen Phänomene wie Tschechiens Premierminister, der Milliardär Andrej Babis, der sich seit Monaten gegen Vorwürfe wehrt, er habe hohe EU-Fördergelder unrechtmäßig für den Bau eines Luxusresorts nahe Prag verwendet. Und generell die Vorteile, die Tschechien durch Europa hat. Insgesamt erhält das Land weit mehr Geld von der EU zum Ausbau seiner Infrastruktur, als es in die Gemeinschaft einzahlt. Inzwischen gilt Tschechien laut Radio Prag in Europa als das beste Ziel für große Konzerne, ihre Produktion zu verlagern, und steht weltweit auf Platz fünf dieser Ambitionen.
Wenig Europaskepsis in Prag
Und dann sind da die ausgewiesenen Rechten. Erst vor 14 Tagen demonstrierten mehrere Hundert Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz anlässlich der bevorstehenden EU-Wahl gegen die Europäische Union. Organisiert hatte sie die tschechische rechtspopulistische Partei „Freiheit und direkte Demokratie“, die im tschechischen Parlament mit gut zehn Prozent die viertstärkste Kraft ist. Deren Chef, der japanisch-tschechische Unternehmer Tomio Okamura, hatte mit Marie Le Pen aus Frankreich und Geert Wilders aus den Niederlanden die beiden mächtigsten Führer rechtspopulistischer Parteien in Europa zur Unterstützung eingeladen.
„All diese Entwicklungen sehe ich sehr kritisch“, sagt Marius Winzeler. Aber im reichen Prag, das jeden Sommer 20 Millionen Touristen anzieht und sich immer weiter als Weltstadt entfaltet, sei von Europaskepsis wenig zu spüren. Präsident Milos Zeman habe in der Hauptstadt nicht viele Anhänger, schließlich hätten die Prager einen Vertreter der tschechischen Piratenpartei als Oberbürgermeister gewählt. „Aber wie in vielen Ländern ist der Unterschied in Tschechien zwischen Stadt und Land sehr groß.“ Die ländlichen Regionen Tschechiens spürten wenig von der Potenz Prags. Die Kaufkraft der Menschen sei geringer, die Unterschiede in der Lebensqualität augenfällig, die Furcht vor dem Fremden und dem Verlust der tschechischen Identität sei höher. „Zemans negative Äußerungen über die EU und deren Flüchtlingspolitik sind alles andere als angemessen“, sagt Marius Winzeler. Aber damit mache Präsident Zeman viele Punkte auf dem Land. Auch schüre er Gerüchte, dass es sich eine intellektuelle, künstlerisch-dekadente Elite in Prag auf Kosten der Ärmeren gut gehen lasse.
Was Marius Winzeler allerdings in Prag wahrnimmt, ist eine veränderte Haltung gegenüber Deutschen. Manchmal erlebe er es, dass sich Menschen im Kontakt mit ihm entspannen, wenn sie erfahren, dass er Schweizer, kein Deutscher ist. „Das war in den 1990ern noch anders.“ Galt der weltoffene Václav Havel als Wegbereiter der deutsch-tschechischen Aussöhnung, sei der Kontakt zu Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich abgekühlt. Der Europaskeptizismus habe bereits unter Václav Klaus zugenommen und sei heute salonfähig. „Seit einigen Jahren geht die Präsenz des Deutschen zurück“, sagt Winzeler. Der deutschsprachige Sender Radio Prag sei inzwischen das einzige deutschsprachige Medium in Prag, die liberal-kritische Prager Zeitung gab vor einer Weile auf. Auch würden heute weniger Informationen für Touristen auf Deutsch angeboten, obwohl der Hauptanteil der Pragbesucher deutschsprachig ist und Publikationen auf Deutsch häufig zuerst vergriffen seien. „Ich stehe in Prag auch für das Deutsche ein“, sagt Winzeler. Leider werde heute oft vergessen, dass viele Teile des Landes über Jahrhunderte tschechisch-deutsch-jüdisch geprägt waren, woraus die kulturelle Vielfalt Böhmens und Mährens resultierte. Als Tschechien 2018 den 100. Jahrestag der Republikgründung 1918 feierte, habe sich das Jubiläum zwar auf die Gründung der Tschechoslowakei bezogen. „Aber die deutschsprachige und jüdische Kultur spielten kaum eine Rolle, die Erinnerung daran ist spürbar verschwunden“, sagt Winzeler. „Stattdessen wird eine eindimensionale tschechische Geschichte beschworen, die das Nationalbewusstsein stärken soll.“
Die meisten Tschechen begrüßen EU
Dennoch seien nationalistische oder europaskeptische Tendenzen in Tschechien nicht mit denen in Polen oder Ungarn zu vergleichen, sagt Marius Winzeler. Die Politik des Landes sei im Wesentlichen nicht gegen die EU gerichtet, auch wenn Milos Zeman sich manchmal so äußere und keine Flüchtlinge aufnehmen wolle. Vor allem aber hätten die Menschen ein überwiegend positives Bild von der EU. Erst kürzlich wurden die Ergebnisse einer Umfrage in Tschechien veröffentlicht, wonach 56 Prozent die Mitgliedschaft Tschechiens in der EU begrüßen. Elf Prozent waren für einen sofortigen Austritt des Landes aus der EU, 27 Prozent machten ihre Zustimmung zur EU vom Reformwillen der Gemeinschaft abhängig. Auch wurde verkündet, dass der Lebensstandard und die Löhne zwar noch immer unter EU-Durchschnitt liegen, aber seit dem Beitritt Tschechiens 2004 erheblich gestiegen sind.
Für seine Arbeit in der Prager Nationalgalerie pflegt Marius Winzeler Kontakte zu Museen in der ganzen Welt. „Wir sind gut vernetzt, auch über die EU hinaus“, sagt er. „Dennoch kommen uns der europäische Kontext und der Zugang zu europäischen Fördertöpfen entgegen.“ So konnten etwa die Gärten des mittelalterlichen, zur Nationalgalerie gehörenden Agnesklosters zwischen Moldau und Prager Neustadt saniert und zu einem neuen Kommunikationsraum für die Prager erschlossen werden. Auch viele andere Kulturgüter Böhmens kommen dank solcher Hilfen neu zu Geltung. „Prag ist eine wunderbare Stadt und Tschechien ein wunderbares Land“, sagt Marius Winzeler. „Es ist eine Freude, hier zu leben und am kulturellen Reichtum teilzuhaben.“ Die Infrastruktur, der Servicegedanke oder etwa die medizinische Versorgung seien in Tschechien bereits jetzt auf einem hohen Niveau, die Löhne seien jedoch noch nicht konkurrenzfähig. „Insofern ist die EU eine großartige Chance für dieses zutiefst europäische Land.“
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