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Mord in Gersdorf bleibt ungesühnt

Der letzte Pächter des Rittergutes Gersdorf ist erschlagen und in einen alten Bergwerksschacht geworfen worden. Dieses Drama bewegt seine Familie noch immer.

Von Heike Heisig
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Ein Holzkreuz und ein Blumengruß, den Heimatfreund Jens Schmidt am Jahrestag der Ermordung abgestellt hat, erinnern am Rande eines Waldweges in Gersdorf bei Roßwein an Daniel von Hoenning O`Carroll.
Ein Holzkreuz und ein Blumengruß, den Heimatfreund Jens Schmidt am Jahrestag der Ermordung abgestellt hat, erinnern am Rande eines Waldweges in Gersdorf bei Roßwein an Daniel von Hoenning O`Carroll. © Dietmar Thomas

Roßwein. Ein Datum vergisst Jens Schmidt nie: den 14. Mai. An diesem Tag im Jahr 1945 war er noch nicht einmal auf der Welt. Trotzdem hat er für ihn eine besondere Bedeutung.

An jedem 14. Mai stellt er eine Einpflanzung vor einem schlichten Holzkreuz ab. Dieses steht am alten Postweg. „Der heißt so, weil ihn der Postbote früher zu Fuß als kurze Verbindung zwischen dem Wolfstal und Gersdorf genutzt hat“, erklärt der Chef des örtlichen Bergbauvereins. Er kennt sich mit der Heimatgeschichte über Tage genauso gut aus wie mit der unter Tage.

Auf jenem Holzkreuz steht auf einem inzwischen von der Witterung gezeichneten kleinen Schild ein Name: Daniel von Hoenning O`Carroll. „Er war der letzte Pächter unseres ehemaligen Gersdorfer Rittergutes“, erzählt Jens Schmidt. Die O`Carrolls seien eine irische Familie gewesen, die in der Region erfolgreich Landwirtschaft betrieben habe. Schmidt erzählt von einer Herdbuch-Rinderzucht und mehr als 300 Schafen, die auf den Weiden in und um Gersdorf standen. Er selbst erinnert sich noch an herrliche Obstplantagen, die zum Rittergut gehörten, und in die er als Kind zur Ernte ging.

Durch ihre Arbeit und auch die Hilfe von jugoslawischen Kriegsgefangenen seien die Pächter gut durch die Kriegsjahre gekommen, schildert der Gersdorfer. Nach Kriegsende habe sich Daniel von Hoenning O`Carroll zur Versorgung der russischen Soldaten in der Region verpflichten müssen. Regelmäßig sei Vieh über den Postweg ins Wolfstal getrieben und dort in der Gastwirtschaft der Familie Mehnert verarbeitet und zubereitet worden.

„Meine Großeltern haben bei Mehnerts gearbeitet und oft von ihrer Zeit dort erzählt“, begründet Schmidt, woher er so manches Detail aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren weiß. Solange die Rote Armee in der Nähe gewesen und versorgt worden ist, sei es auch der Bevölkerung nicht unbedingt schlecht ergangen. „Es ist häufig etwas abgefallen, sodass die Hungersnot nicht ganz so groß war als vielleicht anderswo“, sagt er.

Was sich am 14. Mai 1945 in Gersdorf zugetragen haben soll, das hat der Gersdorfer von Hinterbliebenen Daniel von Hoenning O`Carrolls erfahren. Nach deren Berichten sind an jenem Tag polnische Zwangsarbeiter im Ort unterwegs gewesen. Vom Gutshofpächter hätten sie Pferde verlangt, um schneller nach Hause zu kommen. O`Carrolls habe diese Forderung ausgeschlagen und damit begründet, dass er ohne Genehmigung des russischen Kommandanten kein Vieh herausgeben dürfe.

Das sei dem damals 63 Jahre alten Landwirt zum Verhängnis geworden. Die Polen hätten ihn erschlagen. „Und die Jugoslawen, die nach Kriegsende auf dem Hof geblieben waren, mussten ihn zu einem stillgelegten Bergwerksschacht schleppen und dort hineinwerfen“, rekonstruiert Jens Schmidt, was damals geschehen und auch in der Literatur nachzulesen ist.

75 Jahre alte Reisepässe entdeckt

Für Schmidt steht fest, dass die Gebeine Hoenning O`Carrolls noch immer in dem alten Schacht liegen. „Vielleicht in 100 Meter Tiefe – damals wie heute unerreichbar“, urteilt der frühere Bergmann, der später bei der Bergsicherung gearbeitet hat. Dass die Familie Daniel von Hoenning O`Carroll nicht ordentlich bestatten konnte, war und ist aus Sicht des Gersdorfers nicht zu ändern. Aber er unterstützt gern das Anliegen der Nachkommen, dass die Person und die Tat nicht vergessen werden dürfen – „wenn schon der Mord ungesühnt geblieben ist“, sagt Schmidt. 

Zu DDR-Zeiten sei an eine Aufklärung nicht zu denken gewesen und auch das Holzkreuz immer mal wieder verschwunden. Das habe mit der Wende aufgehört. Hin und wieder interessieren sich Wanderer für das Kreuz am Wegesrand und fragen Schmidt danach, was es damit auf sich hat, wer O`Carroll gewesen ist. Ihnen erzählt er in Kurzfassung vom tragischen und „total sinnlosen“ Ende des Rittergutspächters. Denn: Nach Meinung des Gersdorfers wissen die Leute heute viel zu wenig, was in der Region, in der sie leben, passiert ist.

Mit der Familie O`Carroll, darunter dem mittlerweile über 90-jährigen Sohn Carl Otto, steht Jens Schmidt nach wie vor in Kontakt. Auch ein Enkel erkundige sich regelmäßig, ob das Kreuz noch intakt ist, ein paar Blumen davor liegen.

Nach dem Mord ist die irische Familie aus Gersdorf geflohen. Ein Teil soll sich zum Zeitpunkt der Tat bei Verwandten in Kriebethal aufgehalten haben: bei der Familie von Arnim, die als letzter Privateigentümer der Burg Kriebstein in der Region durchaus bekannt ist. Erst vor kurzem sind bei Renovierungsarbeiten in einem alten Haus im Ort Reisepässe und andere Dokumente der Familie Hoenning O`Carroll gefunden worden. „Die wurden wahrscheinlich zum Kriegsende oder vor der Flucht noch schnell versteckt“, vermutet Jens Schmidt. Die Unterlagen hat er der Familie zukommen lassen. Die habe sich sehr gefreut, nach 75 Jahren solche Papiere in den Händen halten zu können.

Nach dem Totschlag und der Flucht der Pächter wurden die letzten Besitzer enteignet. Im Gut samt Schloss richtete der neue Staat eine FDGB-Bezirksschule ein. Nach verschiedenen anderen Nutzungen wird ein Teil des Ensembles mittlerweile für ein offenes Wohnprojekt genutzt. Um die denkmalgeschützten Gebäude zu erhalten und herzurichten, fehlt den Mietern allerdings das Geld.

Prinz inkognito unterwegs

Aus dem Blickwinkel von Jens Schmidt wäre es gut gewesen, wenn die Familie zur Lippe nach der Wende ihr früheres Eigentum zurückbekommen hätte, „ohne dafür Millionen bezahlen zu müssen“, sagt der Gersdorfer. Er kann sich noch gut erinnern, dass es Pläne zur Sanierung und Nutzung für die Pferdezucht gab. Dass der Prinz zur Lippe mit dem früheren Sommersitz seiner Familie und dem Ort Gersdorf immer verbunden geblieben ist, schlussfolgert er aus den mehrfachen Besuchen des Prinzen – auch zu DDR-Zeiten. „Er war inkognito als Tourist hier“, erzählt er. Dass Albrecht von Breitenbuch, der Neffe des Alteigentümers, den Gersdorfer Forst gekauft hat und bewirtschaftet, das freut Jens Schmidt nicht nur, weil er bei ihm als Verwalter eine Aufgabe gefunden hat, die ihm nach dem Bergbau Freude bereitet: „Ich mag Menschen, die ihre Wurzeln kennen und für ihre Heimat etwas tun.“

Literaturtipp: Mehr zu der Familientragödie in Gersdorf ist nachzulesen in: Schicksalsbuch I des sächsisch-thüringischen Adels 1945 (Aus dem deutschen Adelsarchiv Band 5), erschienen im C.A. Starke-Verlag, Limburg an der Lahm

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