Mordprozess im Fall Weizsäcker beginnt

Von Katja Füchsel
Es heißt, dass sich Attentäter Gregor S., derzeit Patient in der Psychiatrie des Maßregelvollzugs, vor allem eines wünscht: Dass die Welt erkenne, dass er nicht geisteskrank ist und zu den Verbrechern ins Gefängnis gehört.
Zum Zeichen seines Protests hat der ohnehin hagere Mann zwischenzeitlich das Essen eingestellt, bringe keine 50 Kilo mehr auf die Waage. Man muss davon ausgehen, dass Gregor S. seinem Prozess vor dem Berliner Landgericht an diesem Dienstag entgegenfiebert.
Die Staatsanwaltschaft beschuldigt den 57 Jahre alten Lageristen aus Andernach des Mordes und des Mordversuchs. Sie legt Gregor S. zur Last, am 19. November 2019 Fritz von Weizsäcker, den Chefarzt der Berliner Schlosspark-Klinik, nach einem Vortrag durch einen Messerstich in den Hals getötet zu haben.
Als dem 59-jährigen Mediziner der als privater Zuhörer anwesende Polizist Ferrid Brahmi zu Hilfe kam und versuchte, den Angreifer zu überwältigen, stach Gregor S. auch auf den letztlich erfolglosen Retter ein, verletzte ihn schwer.
Wusste er, was er tat? Und konnte nicht anders?
Im Prozess wird es kaum um die Frage gehen, was an diesem 19. November 2019 geschehen ist. Der Beschuldigte hat gestanden, mehrfach und umfassend. Seine Schilderung deckt sich weitgehend mit den Aussagen der Zeugen. Die 32. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Matthias Schertz hat sechs Verhandlungstermine angesetzt, um vor allem zu klären, ob Gregor S. zum Tatzeitpunkt schuldfähig war oder nicht.
Nun könnte man fragen: Wie sollte es daran einen vernünftigen Zweifel geben? Wenn ein bis zu diesem Tag als unscheinbar geltender Bürger beschließt, sich für 20 Euro ein Klappmesser zu kaufen, in Koblenz einen Zug besteigt, um einem ihm persönlich völlig fremden Arzt, einem Vater von vier Kindern, die Halsschlagader zu durchstechen. Und dieser Angreifer dann erklärt, dass er die ganze Familie seines Opfers hasse, weil Richard von Weizsäcker, der verstorbene Bundespräsident und ehemalige Berliner Regierende Bürgermeister, in den 60er Jahren den falschen Arbeitgeber hatte.
Was kann das anderes sein als die Tat eines völlig Unzurechnungsfähigen?
Die Polizei folgte der Spur des Hasses
Vier Monate lang haben die Ermittler versucht, für die Anklage nicht nur den Tag des Attentats, sondern auch das Leben des Einzelgängers Gregor S. nachzuzeichnen. Sie haben den Beschuldigten vernommen, der schon am Tatort von einer Art Bekenntniszwang getrieben schien, sie befragten seine Verwandten, seine Kollegen und Ärzte. Spezialisten durchsuchten seine Ein-Zimmer-Wohnung, werteten die Suchverläufe seines Computers aus. Es gelang ihnen die Spur des wahnhaften Hasses zurückzuverfolgen, deren Ursprung vermutlich in der Jugend von Gregor S. liegt.
30 Jahre lang war es nur eine Idee, an jenem 19. November 2020 wurde aus der Besessenheit furchtbare Realität. Ausgerechnet in Haus H, der Abteilung für Psychiatrie der privat betriebenen Schlosspark-Klinik, ein mit rund 350 Betten eher kleines Krankenhaus in Charlottenburg, hatte Fritz von Weizsäcker seinen Vortrag „Die Fettleber – (K)ein Grund zur Sorge“ gehalten.
Es war kurz vor 19 Uhr, als Weizsäcker zum Ende kam und die Zuhörer, die noch Fragen haben, bat, zu ihm nach vorne zu kommen. Für alle anderen Besucher ließ er Bewertungsbögen verteilen.
Mit 33 Jahren und seinem roten T-Shirt war Ferrid Brahmi im ansonsten betagten Publikum kaum zu übersehen. Im Berufsleben kümmerte sich der Polizist um Betrug und Cybercrime.
Der „B.Z.“ erzählte Brahmi, dass er beim Vortrag war, weil er sich vorgenommen hatte, gesünder zu leben. Eine Frau trennte den Familienvater noch vom Professor, als ein Mann in schwarzer Jacke eiligen Schrittes an den Wartenden vorbeizog und unvermittelt auf Fritz von Weizsäcker einstach.vd
Der Polizist rief: Messer weg!
Ferrid Brahmi rief „Polizei, Messer weg!“, packte S. bei den Armen und griff direkt in die Klinge, während der Professor, eine Hand am Hals, zurückwankte. Brahmi kämpfte mit dem immer weiter auf ihn einstechenden S., rang ihn zu Boden und schaffte es schließlich, dem Attentäter das Messer zu entwinden.
In diesem Augenblick stellte S. abrupt seine Gegenwehr ein, ließ sich von Brahmi und anderen zur Hilfe geeilten Besuchern in eine der vorderen Zuschauerreihen bugsieren. Von seinem Platz aus starrte er auf die Notärzte, die vergeblich um Weizsäckers Leben kämpften. Er brabbelte, wie Brahmi es ausdrückte, wirres Zeug.
Als die Charité den Polizisten nach mehreren Operationen wieder entließ, zeichnete ihn Innensenator Andreas Geisel (SPD) mit dem Ehrenzeichen aus.
Der Anklage hat sich Brahmi als Nebenkläger angeschlossen – wie auch die Schwester des Getöteten, Beatrice von Weizsäcker, und zwei seiner Kinder, Victor und Charlotte von Weizsäcker.
Gregor S. galt als extrem fleißiger Arbeiter
Der nun des Mordes angeklagte Gregor S. ist am 27. Dezember 1962 in Plaidt geboren, deutscher Staatsbürger, ledig, er hat zu seiner Mutter und seinen drei Geschwistern kaum Kontakt. Seit sieben Jahren arbeitete S. bei Amazon, er soll als extrem fleißig, aber auch etwas sonderbar gegolten haben. Körperlichen Kontakt wie einen Handschlag mied er, Lichtschalter trat er mit dem Fuß an.
Sieben Mal soll S. wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt worden sein, weil Konflikte in seinem Umfeld eskalierten. Kollegen wussten, dass S. im Streit mit seinem Vermieter lag, keiner will ihn aber über die Weizsäckers sprechen gehört haben.
Er hasste den Bundespräsidenten
Der Polizei erzählte Gregor S., dass er Richard von Weizsäcker hasste, seitdem er 1991 im „Spiegel“ den Artikel „Der Tod kommt aus Ingelheim“ gelesen hatte. Beim Chemiekonzern Boehringer Ingelheim war Weizsäcker von 1962 bis 1966 Mitglied der Geschäftsführung, im Jahr 1967 soll die Firma 720 Tonnen Trichlorphenolatlauge an den US-Amerikanischen Konzern Dow Chemical geliefert haben. Und damit einen Grundstoff für Agent Orange, ein Entlaubungsmittel, das im Vietnamkrieg großflächig eingesetzt wurde. Es schädigt dort – bis heute – ungeborene Kinder im Mutterleib. Der Konzern widerspricht der Darstellung, für eine Unterlassung hat es bislang nicht gereicht.
Sein Motiv erscheint Gregor S. offenbar folgerichtig, rational, geradezu zwingend. Jedes Jahr habe er mehrere Wochen unbezahlten Urlaub genommen, um nach Thailand zu fliegen, ein Land, in dem er die Frauen vergöttere und unter der Ungerechtigkeit leide, die den Asiaten widerfahren sei. Wäre Weizsäcker Präsident von Frankreich oder England gewesen, hätte er keine Vergeltung üben müssen, soll S. erklärt haben. Als Deutscher aber sei ihm keine Wahl geblieben.
Es hätte auch die Schwester treffen können
Als der Bundespräsident 2015 starb, nahm Gregor S. dessen Kinder ins Visier. Es hätte auch dessen Tochter, die Juristin, Autorin und ehemalige Tagesspiegel-Redakteurin Beatrice von Weizsäcker, treffen können, doch dann stieß S. im Internet auf den Vortrag.
So traf es das jüngste der vier Kinder, das der Familienbiograf Hans-Joachim Noack in einem „Spiegel“-Interview als eines der Modernsten in dieser Großfamilie beschrieb. Aufgeschlossen, lebenslustig, ein glühender Anhänger der künstlichen Intelligenz. Zur Medizin sei er gekommen, weil sein Bruder Andreas in jungen Jahren an Krebs gestorben war.
Es heißt, Gregor S. bereue nichts.
Den Gutachter empfängt der Beschuldigte nicht
Als das Gericht den forensischen Psychiater Alexander Böhle bestellte, um ein Gutachten über dessen Schuldfähigkeit zu erstellen, verweigerte S. jede Kooperation. Er soll auch seinem Pflichtverteidiger das Misstrauen ausgesprochen und sich einen zweiten Anwalt genommen haben.
Für die Frage, ob Gregor S. vermindert schuldfähig oder schuldunfähig war, als er doch augenscheinlich geplant und zielgerichtet auf Weizsäcker losging, genügt dem Gutachter das Aktenstudium nicht. Dafür muss er jetzt Gregor S. beobachten, Zeugen näher befragen.
Die Familie Weizsäcker hat erklärt, dass sie sich ein sachliches Verfahren wünsche. Und hoffe, dass es Gregor S. nicht gelingt, den Saal als Bühne für seine krankhafte Gedankenwelt zu missbrauchen.