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„Musik live voller Emotionen – fast wie im Konzertsaal“

Von wegen Langeweile: Wohl musste Intendant Jan Vogler die Musikfestspiele absagen. Doch auch 2020 schart er Stars für Dresden um sich.

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„Es wird in der Zwangspause viel Kreativität freigesetzt und Neues entstehen“, sagt Intendant und Starcellist Jan Vogler.
„Es wird in der Zwangspause viel Kreativität freigesetzt und Neues entstehen“, sagt Intendant und Starcellist Jan Vogler. © Jim Rakete

Mit dem Starpianisten Daniil Trifonov und den New Yorker Philharmonikern sollten am Dienstag die Dresdner Musikfestspiele starten. 63 Konzerte waren geplant – von Klassik bis Weltmusik und Jazz. Popstar Sting sollte das 43. Festival dieser Art am 12. Juni beenden. Wegen Corona mussten die Festspiele abgesagt werden. Das Publikum kann wählen, ob es sich das Geld der Eintrittskarten auszahlen lässt, spendet oder lieber Gutscheine für 2021 nimmt. Intendant Jan Vogler, der als Cellist eigentlich die Uraufführung eines neuen Tripelkonzertes vorbereitet hat, sitzt noch in New York, seinem Zweitwohnsitz, und managt von dort sowohl die Abwicklung für 2020 als auch die Pläne fürs nächste Jahr. SZ-Feuilleton-Redakteur Bernd Klempnow sprach mit dem 56-Jährigen über erstaunliche Telefonate in dieser Zeit, wichtige Zwischentöne und warum er intensivst mit Ärzten im Kontakt ist.

Herr Vogler, was macht ein Intendant, dessen Festival ausfällt?

Langeweile kommt nicht auf. Im Gegenteil, es gibt reichlich Arbeit. Allerdings reise ich weniger als sonst, sondern sitze viel mehr am Schreibtisch und am Telefon. Mit meinem Team sind Verträge abzuwickeln, die Tickets zurückzuerstatten, wir versuchen mit allen unseren Kunden, Partnern und Unterstützern Kontakt zu halten. Wir balancieren wie auf des Messers Schneide. Einerseits wissen wir, dass es keine Alternative zur Absage der Festspiele gab. Die Gesundheit geht vor. Andererseits kann die Musik, kann Kultur nun nicht komplett und schon gar nicht auf Dauer wegfallen. Es geht um Zwischentöne und sehr viel Sensibilität. Umso mehr freue mich, dass wir von allen Partnern, allen Sponsoren und auch in der Politik auf Stadt-, Landes- und Bundesebene sehr verständnisvolle Reaktionen bekommen.

Was ist schwieriger: Künstlern abzusagen oder mit Sponsoren zu verhandeln, dass diese ihre Leistungen nun nicht zu sehr kürzen?

Für die meisten Künstler ist die gegenwärtige Situation wie das völlige Nichts nach einer nuklearen Explosion. Nahezu der gesamte Unterhaltungsbereich ist weltweit zusammengebrochen. Alle Verträge sind wegen höherer Gewalt nichtig. Umso mehr waren die Reaktionen der Künstler und ihrer Agenturen dieses Jahrgangs erstaunlich. Sie überlegten sofort, wie wir weiter zusammenarbeiten können. Natürlich kann man keinen kompletten Jahrgang ins nächste Jahr schieben, weil wir für 2021 natürlich unsere Planungen fertig haben. Aber wir halten Kontakt und schauen, wie wir die jetzt abgesagten Auftritte in die nächsten Festspiele integrieren können. Auch erstaunlich verliefen alle Gespräche mit unseren Sponsoren, die zu uns halten, aber deutlich formuliert haben, es soll trotzdem Musik in welcher Form auch immer stattfinden.

Daher die Idee, das Internet zum Konzertsaal zu machen?

Genau. Ich hatte ja im März in New York die Initiative „Music Never Sleeps NYC“ mit vielen Kollegen als eine Art Lebenszeichen von Künstlern in Corona-Zeiten mit großem Erfolg ausprobiert. Das Echo war beeindruckend. Diese Erfahrung übertragen wir nur auf die Dresdner Musikfestspiele. Am 16. Mai wird es ab 18 Uhr ein 24-stündiges Livestream-Festival unter dem Motto „Music Never Sleeps DMF“ geben. Und diese Idee kam bei den Sponsoren sehr gut an, weil wir zeigen: Die Dresdner Festspiele existieren. Wir haben fast alle Künstler, die in diesem Jahr aufgetreten wären, eingeladen sowie jene, die uns schon lange verbunden sind. Wir werden Musik in vielen Schattierungen live mit all ihren Emotionen und Aktionen bieten – fast wie im Konzertsaal.

Nun ist das Netz schon voll von künstlerischen Filmchen, die mehr oder minder professionell gemacht und aussagekräftig sind. Wie wollen Sie 24 Stunden lang die Spannung hochhalten?

Es gibt mehrere Moderatoren, darunter Ute Lemper, Martin Brambach und mich. Und es gilt wie beim Live-Event: Es kommt zuerst auf die Qualität an – in der künstlerischen Leistung wie in der Umsetzung. Bei Könnern wie Martin Grubinger, Till Brönner, Jamie Cullum und Eric Clapton, um einige zu nennen, darf das Publikum natürlich nur das Beste erwarten. Um das auch entsprechend rüberzubringen, haben wir in Amerika einen Partner gefunden, der einen sehr datenintensiven Stream gewährleistet, sodass sich die künstlerische Kraft der Interpreten entfalten kann und auch die Gefühle, die diese Musik transportiert. Wer ein gutes Gerät und stabiles Internet daheim hat, dürfte im Glück sein können.

Die deutsche Sängerin und Schauspielerin Ute Lemper wird am 16. Mai beim 24-stündigen Livestream-Festival moderieren.
Die deutsche Sängerin und Schauspielerin Ute Lemper wird am 16. Mai beim 24-stündigen Livestream-Festival moderieren. © Raul Ferrari/telam/dpa

Gutes Internet in Sachsen – Sie machen Spaß!

Wir werden trotzdem das Beste draus machen. Jeder Künstler hat ungefähr fünfzehn bis zwanzig Minuten, es werden weit über 50 Musiker dabei sein. Wir haben aber auch einige Dokumente von den Festspielen aufbereitet, etwa die noch nicht veröffentliche Aufnahme einer Schumann-Sinfonie von unserem exzellenten Festspielorchester oder von den Gastspielen wie dem vom Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg unter Valery Gergiev. Aber wir werden auch mit Rundfunkübertragungen und -sendungen zu unserem Publikum ins Wohnzimmer kommen.

Reichten Kraft und Zeit, eine weitere Festspiel-CD fertigzustellen?

Ja. Schon, um unseren Partnern danke zu sagen. Wir veröffentlichen die nächste CD mit der Cello-Konzert-Uraufführung vom vergangenen Jahr. Zudem ist das Schostakowitsch-Gastspiel des Orchesters des Mariinsky-Theaters von 2019 darauf.

Welche Resonanz erwarten Sie?

Das Publikum reagierte beim New Yorker Musikmarathon erstaunlich gut. Und das über alle Altersgruppen, Zeitzonen und Bildungsgraten hinweg. Wir erwarten um die 200.000 Nutzer – das sind dreimal so viele, wie wir sonst während des Festivals Besucher haben. Meine Erfahrung ist, das Internet kann sehr zielgenau die Fans erreichen.

Trotzdem: Wie rot werden die Bilanzzahlen 2020?

Mein Ziel ist es, durch hartes Haushalten keine Verluste zu machen, und da bin ich zuversichtlich, wenn Geldgeber beispielsweise den Stream-Marathon als Aktivität anerkennen. Meine Sorge gilt mehr der Zukunft. Ich befürchte, dass die Folgen der Corona-Krise, also die finanziellen Schwerpunkte, um Leben und Wirtschaft wieder hochzufahren, als auch das sicher zunächst erst langsam zurückkommende Publikum, für die Kultur schwerwiegender sein könnten als die Krise selbst. Das ist bitter, denn wir waren wieder auf dem Weg zu einem Rekordjahrgang mit bereits im Vorfeld verkauften Karten von fast 1,4 Millionen Euro. Die Hotels im Festspielzeitraum waren ausgebucht!

Noch planen Sie für August Ihr Kammermusikfestival in Moritzburg. Open air dürfte einiges gehen – wie wollen Sie das handhaben?

Da gehen wir flexibel ran. Moritzburg greift ja die Musik und Atmosphäre der musikalischen Salons des 19. Jahrhunderts auf. Also, was Brahms, Schumann, Liszt und Chopin in den Häusern ihrer Förderer dargeboten haben. Wir versuchen das Festival stattfinden zu lassen, vermutlich nicht so wie derzeit programmiert. Ich glaube, dass diese Musikform so flexibel ist, dass wir die Aufführungen an das anpassen können, was jeweils möglich ist. Ich bin momentan in sehr regem Austausch mit Ärzten, die ja zum Teil auch zu unserem Publikum gehören. Viele haben sich angeboten, begleitend zu helfen. Wir werden das Gesundheitsrisiko vollumfänglich beachten und wollen trotzdem versuchen, mit Intelligenz, Sensibilität und Kreativität Kultur in dieser Zeit zu fördern.

Das klingt nach sozialem Ungehorsam.

Nein, überhaupt nicht. Davon halte ich nichts und habe gerade in New York zu viel Schlimmes die vergangenen Wochen erlebt. Wir glauben, dass Moritzburg mit kompetenten Partnern wie der Ärztekammer ein Modellversuch sein könnte, die Gesundheit nicht zu gefährden und gleichzeitig Live-Konzerte durchzuführen. Das Gute ist: Wir haben ja noch etwas Zeit bis dahin. Und täglich erfahren wir mehr über Corona. Für mich ist ganz klar: Gesundheit und Kultur dürfen sich nicht bekämpfen.

Herr Vogler, Sie sind ein Star und gleichzeitig nicht systemrelevant. Wie lebt es sich mit dem Gefühl?

Das werde ich derzeit oft gefragt und kann nur sagen: War jemals ein Cellist wichtiger als eine Krankenschwester oder ein Polizist? Nein! Gleichzeitig höre ich oft von Krankenschwestern und Ärzten oder lese es in Mails und Briefen, dass die Musik enorm fehlt. Vor einigen Tagen habe ich einer Konzertbesucherin aus Radebeul telefonisch zum 101. Geburtstag gratuliert. Als ich sie fragte, was sie sich wünscht, kam sofort: Bald wieder ein Konzert in Moritzburg hören zu können! Die große Aufgabe ist es, die Kultur über die Krise zu retten. Das bereitet mir manch schlaflose Nacht. Eine kurze Zwangspause halte ich für verschmerzbar. Aber ein Fehlen von Kultur in so einem hoch entwickelten Staat wie Deutschland, in einer von der Kunst und ihren Traditionen zehrenden Stadt wie Dresden wäre fatal. Gerade der Tourismus in Dresden wird doch von der Kultur getragen. Ich bin überzeugt, dass Kunst und Kultur genauso zum Menschsein dazugehören wie Essen, Trinken, Natur, soziale Kontakte und eine sinnvolle Arbeit. Mich motiviert, dass diese Zeit nicht nur dunkel ist, sondern derzeit unglaublich viel Kreativität freigesetzt wird und Neues entsteht.

Der 24-Stunden-Live-Stream:

Festspiele in Radio & TV:

  • 15. Mai: 10.15 Uhr, MDR-Kultur – Porträt der diesjährigen Festspiel-Preisträgerin Barbara Hannigan; 17.10 Uhr, MDR-Kultur – Interview mit Jan Vogler

  • 16. Mai: 8.40 Uhr, MDR-Kultur – Gespräch zum 24-Stunden-Live-Stream

  • 16./17. Mai: 18 Uhr bis 18 Uhr, Übertragung des Live-Streams via Event-Kanal von MDR Sachsen Extra (DAB+), Kanal 9A (202,928 MHz)

  • 19. Mai: 20 Uhr, Deutschlandfunk Kultur – Musikfestspiel-Abend 

  • bis Ende Juni: In der MDR-Mediathek ist das TV-Porträt von Jan Vogler „Mit dem Cello um die Welt“ zu sehen.

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