Peter Schreier – ein persönlicher Abschied

Natürlich Peter Schreier: Keiner intoniert „O du fröhliche, O du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!“ mit so samtiger, schöner Stimme wie der Dresdner Tenor. So war es keine Frage, welche CD in den vergangenen Tagen immer wieder bei uns daheim – wie wohl in vielen Haushalten – gespielt wurde: „Welt ging verloren, Christ ward geboren. Freue, freue dich, o Christenheit“, stimmt der Knabenchor ein.
Der erhabene Gesang erfreute die ganze Familie auch Jahrzehnte nach Entstehen der Weihnachtslieder-Platte von 1975, und doch war beim Anhören zum diesjährigen Fest so ein Gedanke dabei: Wie geht es Peter Schreier?
Vor ein paar Wochen noch hatte er mich als Klassikredakteur der Sächsischen Zeitung begrüßt. Schon damals ging es ihm körperlich schlecht. Aber der Geist war hellwach. „Kommen Sie zu mir ins Gartenzimmer“, rief er und strahlte wie immer: „Schön, dass Sie da sind. Was gibt es Neues? Möchten Sie Kaffee? Bei mir ist es, Sie sehen es ja, nicht zum Besten bestellt. Also, erzählen Sie!“
Weitere solcher Begegnungen, bei denen wir uns seit den 90er-Jahren über seine Rollen, seine Musik, seine Hobbys und Alltagsdinge für die SZ und privat unterhalten haben, wird es nicht geben. Peter Schreier, der gebürtige Meißner und einer der wichtigsten Sänger des 20. Jahrhunderts, ist am 1. Weihnachtsfeiertag 84-jährig in Dresden gestorben, wie am Donnerstag bekannt wurde. Die Familie bat um Zurückhaltung und Wahrung der Privatsphäre.
Seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte Schreier bei der Trauerfeier für seinen Freund und Kollegen Theo Adam im Januar 2019 gehabt. Ihm war es sichtlich schwergefallen, zu diesem Abschied in der Loschwitzer Kirche zu fahren und dann die paar Meter zu gehen. „Doch, das bin ich Theo schuldig“, sagte er. Peter Schreier war eben stets ein extrem disziplinierter Mensch.
So dürften all jene in diesen Tagen trauern, die seine Musik geschätzt haben. Und jene, die ihn erleben durften: bei Auftritten, Meisterkursen, Diskussionen und Festakten. Entsprechend haben ihn schon und werden ihn Politiker und Prominente in höchsten Tönen loben. „Lobe und Auszeichnungen sind eine Alterserscheinung“, meinte er einmal. Wichtiger als all die Hymnen „sind mir Briefe von Menschen, denen mein Gesang Mut zum Leben gegeben hat“. Und das tat er über 65 Jahre als Sänger und Dirigent hinweg.
Mit acht Jahren kam Schreier zum Dresdner Kreuzchor und wurde vom damaligen strengen, heute gern glorifizierten Kreuzkantor Rudolf Mauersberger überaus gefördert und bis zur Überforderung gefordert. Diese Zeit, diese Art des unbedingten Anspruchs an das Musizieren prägten sein Leben. „Ich lernte Ehrgeiz, Unterordnung und Kameradschaft. Das ist sehr wichtig, weil man in der Musik ja auch auf andere hören soll. Aber es stimmt, beruflich war ich seitdem mit mir immer etwas unzufrieden. Schon als Kruzianer lernte ich, nicht krank zu sein, wenn ein Auftritt anstand. Falscher Ehrgeiz?“

Schreier bedauerte später oft genug, aus egoistischen Gründen seine Karriere vorangetrieben und sich zu wenig Zeit für die Familie genommen zu haben. „Einmal war ich über Weihnachten in New York engagiert und saß nach dem Auftritt allein im Hotelzimmer. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Ich halte auch den Rekord, 25 Jahre jeden Sommer in Salzburg aufgetreten zu sein. Selbst als ich meine Frau und Kinder mitnehmen durfte, hatten die nichts von mir. Ich war ständig unter Strom, hatte Proben und Aufführungen. Meine Familie vernachlässigt zu haben, ist ein Defizit meines Lebens.“
Verstehen konnte man all die Agenten und Intendanten, die Schreier haben wollten. Die Fans lagen ihm zu Füßen. Nach dem Kreuzchor hatte der junge Mann in Dresden Gesang und Dirigieren studiert. 1959 stand er erstmals auf der Opernbühne – als Erster Gefangener in Beethovens „Fidelio“. Drei Jahre später schaffte er den Durchbruch als Belmonte in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ und galt fortan als der Mozart-Tenor schlechthin. „Meine Stimme ist für diese Schönheit wie geschaffen, zugleich setzte sie mir Grenzen.“
Er feierte ab 1967 in Salzburg Triumphe als Tamino in der „Zauberflöte“ und sang diese Partie bis zum Juni 2000 – seinem letzten Opernauftritt. Selbst wenn die Paminas neben ihm altersmäßig längst seine Enkelinnen sein konnten, gewann der Tenor noch im dritten Jahrzehnt als Tamino dieser eher langweiligen Prinzenrolle etwas ab: „Ich habe mich in meiner Sängerlaufbahn verändert in der musikalischen Interpretation, durch Erfahrung und wachsendes Selbstbewusstsein. Es kam dann nicht nur auf die Töne an, sondern mehr auf den Ausdruck.“

Maßstäbe setzte er ebenso als Bach-Interpret. Gut 500-mal hat er den Evangelisten in Bachs Passionen gesungen, oft gleichzeitig dirigiert. „Ich liebte diese Partie, weil sie ein Strippenzieher war. Ebenso wie der Loge in Richard Wagners ,Ring’, nur wusste ich das nicht.“ Der legendäre Dirigent Herbert von Karajan überzeugte ihn, und Schreier vertraute diesem Meister, der viele Künstler, nur nicht den sächsischen DDR-Export verheizte. „Als ich in Salzburg bei ihm den listigen Loge sang, hat das Publikum getobt. Und ich dachte bei mir: Was habe ich all die Jahre mit Mozart falsch gemacht, dass ich da nie einen solchen Applaus bekam?“
Mehr als 60 Partien hat Schreier verkörpert, war mit Liederabenden in Tokio wie Mailand engagiert. Er genoss Privilegien, und das ohne SED-Parteibuch. 1972 war er an der Staatsoper Berlin von ehemaligen Kommilitonen gefragt worden, ob er nicht mal den Taktstock führen wolle. Er tat es, wie später unter anderem bei den Wienern und New Yorker Philharmonikern, bei der Staatskapelle und Philharmonie in Dresden.

Ungeachtet des internationalen Erfolges und dass er kaum in Dresden, sondern wegen der besseren Bedingungen vor allem in der Berliner Staatsoper gesungen hat, blieb er „ein Heimatfan. Die Elbe, das Blaue Wunder, die Sächsische Schweiz – was für ein Reichtum an Natur und Lebensqualität. Wenn ich von Reisen zurückkam, war ich selig, wieder in Dresden zu sein.“ Die Heimatstadt dankte es dem treuen Kammersänger mit diversen Ehrungen, die ihn berührten.
Nach dem Bühnen- und dem Pultabschied war der geniale Künstler immer noch als Mentor und Förderer etwa der Musik von Robert Schumann aktiv, obwohl das Reisen für ihn zunehmend beschwerlich wurde. Schreier plagten Rückenprobleme, er lebte mit Bypässen, hatte lange Krankenhaus- und Kuraufenthalte zu überstehen. Manchmal staunte er selbst, „wie lange ich als Diabetiker überhaupt lebe“.
Umso mehr freute er sich, wenn immer wieder mal Neuauflagen seiner über 250 Aufnahmen im Haus oberhalb der Elbe eintrafen. So wie zuletzt diesen Sommer seine liebste „Zauberflöten“-Aufnahme als Blu-Ray-Fassung, die 1982 bei den Salzburger Festspielen entstanden war.
Starbesetzt bis in die kleinsten Rollen ist die, und wer Schreier nie live erlebt hat, hört und sieht, was ihn so unvergleichlich in Ausdruck und Gestaltung gemacht hat. „Möchten Sie eine DVD?“, fragte er dann oft, ohne die Antwort abzuwarten, und meist legte er noch die neue CD eines bislang nicht veröffentlichten oder neu polierten Liederabends aus Wien oder London dazu. „Wir unterhalten uns das nächste Mal, was Sie davon halten, ja?“

Und dann gab es noch jene Seite, die man in der Öffentlichkeit nicht so kannte. Schreier hatte nicht nur einen herzlichen Humor. Er war an vielen Dingen des normalen Alltags interessiert. Vor allem war er Sportfan. Olympische Spiele oder Meisterschaften bedeuteten für ihn Wochen vor dem Fernseher.
Mit ihm an der Elbe im Biergarten zu sitzen und über Dynamo zu fachsimpeln oder das Pegida-Phänomen zu diskutieren, war bereichernd. Die Dynamos bedauerte er nur noch, schaute lieber zu Red Bull nach Leipzig. „Fußball ist dort im Idealfall ein spannendes und ästhetisches Vergnügen.“ Und von Pegida hielt er nicht viel. „Eine Bewegung, die sich überholt. Ich glaube nicht, dass sie dem Dresden-Image groß schadet.“
Wir kannten uns schon lange. Und doch gab es immer wieder Überraschungen. In Kreischa lud er einmal auf seine „Scholle, wo ich pflanze, ernte und verarbeite“. Sein Fahrzeugpark an Mäh- und anderen Geräten war beeindruckend. Sein Eintopf spektakulär und seine Konfitüren richtig gut: schön fruchtig, aber nicht zu süß – so wie bei Oma und Bio.
In diesem Umfeld offenbarte der Meistersänger, dass er auch gern Bauer geworden wäre: „So richtig mit Vieh und Feld.“ Er war ja auf den Höfen von Gauernitz groß geworden. „Die ganze Atmosphäre, der Tagesablauf, das Mitmachen im Stall und auf den Wiesen, das Treffen der ganzen Familie zum Abendbrot – das war meine Welt.“