Von Frank Seibel
Ne Buddel voll Rum, ohej! Das würde jetzt passen. Eine trübe Kälte hat sich über die Lagune gelegt, die heute nur grau, nicht blau ist. Da wirken die Seemannslieder auf einmal gar nicht fremd, die der Shanty-Chor am Ufer singt. Wind und Wellen und Rum, ohej! Das klang ein bisschen verwegen, nach Aufbruch und Abenteuer. Und so war den Männern wohl auch zumute, als sie am Sonnabendvormittag die Flaggen am neuen Fahnenmast hochzogen und eine neue Ära ankündigten: Der neue Segelstützpunkt am Berzdorfer See ist eröffnet. Drei Vereine haben sich bei Schönau-Berzdorf zusammengetan und aus einem zugewucherten Uferstück eine Basis mit Liegeplätzen für vierzig Boote und leichten Zugang zum See gestaltet. Die Seeräuberromantik passte ganz gut, denn die Segler haben sich zwar die Unterstützung des Bürgermeisters von Schönau-Berzdorf, Christian Hänel, gesichert, sind sonst aber doch recht freibeuterisch mit Vorschriften und bisherigen politischen Absprachen umgegangen. Eigentlich haben die drei Anrainer Schönau-Berzdorf, Markersdorf und Görlitz ja einen gemeinsamen Plan beschlossen, wonach der Hafen bei Tauchritz das Wassersportzentrum werden soll.
Aber wenn doch das alles viel zu lange dauert? Oho, ne Buddel voll Rum, sagten sich die Segler von der ISG Hagenwerder, von den Lausitzer Segelsportfreunden und vom Schönauer Sportclub – und bauten selbst einen Stützpunkt. Ein Dutzend Boote legte am Sonnabend vom Ufer der „Blauen Lagune“ ab.
Frank Heuer ist einer der Abenteurer von der Blauen Lagune. Und Lilly ist die Jolle, die in ihren dreißig Lebensjahren schon etliche Seen befahren hat, am allerhäufigsten den Witka-Stausee, aber auch mal die Müritz und andere Mecklenburger Seen. Frank Heuer trägt im wahren Leben Schlips und Kragen und sitzt viel am Schreibtisch – oder ist das hier das wahre Leben, das er im blauen Sportdress, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und Wasserlatschen aus Gummi bestreitet? Vermutlich – denn der Ort, an dem das Abenteuer spielt, ist für ihn wie für die meisten Segler hier viele Jahre ein Zentrum im Leben gewesen. Wie die meisten Männer hier hat er in der Kohlegrube und später im Kraftwerk gearbeitet. Sie haben erlebt, wie Häuser, Höfe und Kirchen im Tagebau verschwanden, damit zwischen Görlitz und Dresden nie das Licht ausgehen musste. Viele hatten nicht das Glück, wie Frank Heuer nach der Schließung der Grube wieder eine gute Arbeit zu finden. Aber auch für ihn sind die 333 Millionen Kubikmeter Wasser zwischen Weinhübel, Jauernick-Buschbach, Hagenwerder und Schönau-Berzdorf mehr als nur ein See wie jeder andere. Eineinhalb Stunden braucht Lilly, um fit zu sein für ihren ersten Einsatz der Saison. Am Abend zuvor hat Frank Heuer in seiner Garage schon alles zurechtgelegt: die beiden Segel, das Ruderblatt, Seile und Seilwinden. Zusammen mit seinem Vereinskollegen Armin Menzel von der ISG Hagenwerder baut er das Boot auf, das 1983 in Rostock gebaut wurde und viele Geschwister hier im neuen Wassersportzentrum hat.
Während der Shanty-Chor singt, das Bierfass angestochen und Kohlen im Grill angezündet werden, zieht Frank Heuer seine Jolle auf einem zweirädrigen Hänger hinunter zum Ufer. Lilly gleitet ins eiskalte Wasser. Da steckt noch nicht viel Frühling drin; noch zehn Tage zuvor lag an einigen Stellen des Sees eine dünne Eisschicht auf der Wasseroberfläche. Frank Heuer scheint das nichts auszumachen. Er steigt bis zu den Waden ins Wasser, verzieht keine Miene. Es ist ja für einen guten Zweck. Lilly lässt sich von kleinen Wellen umglucksen und macht sich nichts aus kalt oder warm. Die ersten Bootsgeschwister sind schon auf dem See. Jenny heißen sie oder Paulchen. Die weißen Segel ragen aus dem Nieselgrau heraus. Frank Heuer lächelt, als er im Heck Platz nimmt und den hölzernen Hebel des Ruders ergreift. Schöne Aussichten sind das: Segeln, wo er früher gearbeitet hat. Auch wenn die Aussicht noch besser sein könnte. Keine Landeskrone zu sehen an diesem trüben Vormittag, nur schemenhaft ist der große Vierseithof von Deutsch Ossig am Nordost-Ufer erkennbar. Dorthin soll die erste Fahrt gehen. Eine leichte Brise bläht die beiden Segel. „Jetzt kann man sich entscheiden, ob man nur ein bisschen spazieren fährt oder das ganze etwas sportlich angeht.“ Diesmal nur eine Spazierfahrt. Armin Menzel, früher Kumpel, jetzt Rentner, will ein bisschen fotografieren im Boot. Da stört ständiges Schaukeln und Wenden nur. Der Wind ist ordentlich, aber nicht stark. Schnell werden die Segel der anderen Boote vor der Lagune kleiner.
Für Frank Heuer ist das hier Entspannung pur, sagt er. Mitten auf dem See ist alles andere ganz weit weg, der Alltag sowieso. An diesem Tag sind auch keine Stimmen vom Ufer her zu hören. Kein Wetter für Skater und Radler. Mitten auf dem See erinnern sich Frank Heuer und Armin Menzel daran, dass hier vor 13 Jahren nur ein riesiger staubiger Krater war, bis zu 70 Meter tief. Wo sie jetzt mit Lilly schippern, wurde 150 Jahre lang Kohle abgebaut, 100 Jahre lang industriell und in großem Maßstab. Berzdorf wurde komplett geopfert. Nur der respektvolle Name ist geblieben: Berzdorfer Grube erst, dann Berzdorfer See. Mit dem Namen bekennt sich die Region zur Tradition des Kohleabbaus, sagen die beiden Segler. Eine Umbenennung in „Görlitzer See“ aus Marketinggründen lehnen sie ab. Soll man doch sagen: „Berzdorfer See bei Görlitz“.
Die Rückfahrt gen Süden geht fix. Nur eine halbe Stunde, obwohl der Wind zwischenzeitlich abflaut. Das sind die Unwägbarkeiten. So ganz lässt sich eine Segeltörn nicht planen. Was, wenn man um eins verabredet ist und das Ufer zwar zum Greifen nah ist, aber der Wind weg ist? Da kann man Schmetterlinge bauen aus den Segeln, kann das Focksegel hin und her schwenken und versuchen, jedes Lüftchen zu kaschen. Alles alles alles: Nur nicht zum Paddel greifen. Das muss zwar jedes Boot bei sich führen. Aber diese Blöße will sich Frank Heuer nicht geben. Ist auch nicht nötig am ersten Tag. Als Lilly das Ufer erreicht, hat der Shantychor alle Buddeln voll Rum schon leer gesungen, die Soljanka ist auch alle, nur Bratwürste gibt’s noch und Kaffee. Egal, Hauptsache warm. Denn nach eineinhalb Stunden bei sieben Grad ist Frank Heuer tüchtig durchgefroren. Aber schön war’s. Und wenn erst wieder die Sonne wärmt und das Panorama zu sehen ist: Ho, hej, dann braucht’s auch keinen Rum.