Herr Professor Becker, der Stadtrat hat vor kurzem wieder einmal die Sanierung der Königsbrücker Straße beschlossen. Wird sie breiter als nötig?
Die Königsbrücker Straße ist für mich das Musterbeispiel dafür, dass es in unserem Stadtrat nicht nur nach Sachargumenten geht. Ich habe den Eindruck, manchmal geht es da mehr nach Rache als nach Sache.
Was meinen Sie damit?
Na ja, viele Entscheidungen fallen anscheinend dogmatisch: Die gegnerische Fraktion wird eben nicht als Partner, sondern als Gegner gesehen. Wenn es um die Sache gehen würde, hätte man einfach auf die Verkehrszählungen geschaut: 1999 gab es auf der Königsbrücker Straße 23 500 Autos pro Tag. Im Jahr 2011 waren es 20 800. Im vergangenen Oktober, mit der eröffneten Waldschlößchenbrücke, waren es nur noch 14 500 Autos.
Was bedeutet das für die nötige Straßenbreite?
Die Zahl der Streifen ist eigentlich relativ unwichtig: Es kommt auf die Knotenpunkte an. Die Knotenpunkte entscheiden, ob es auf einer Straße flüssigen Verkehr gibt oder nicht. Wenn man die Kreuzungen clever plant, kommt man bei den heutigen und künftigen Verkehrsmengen definitiv mit einem Fahrstreifen je Richtung aus. Ich vermute, viele Stadträte wollen einfach vier Fahrspuren sehen, aus dogmatischen Gründen, oder weil sie meinen, dass sonst die anderen gewonnen hätten.
Gegen die zweistreifige Variante protestieren ja nicht nur CDU und FDP, sondern auch die Verkehrsbetriebe. Sie befürchten, dass sie im Stau hinter den Autos feststecken.
Was wir aber mit dem jetzigen Beschluss haben, ist die straßenbahnunfreundlichste Lösung überhaupt: Ganz plötzlich haben FDP und CDU im Stadtrat dann doch die Linksabbiegespur am Bischofsweg eingefügt. Dort stehen definitiv nun alle Straßenbahnen. Ein einziges abbiegendes Auto reicht schon. Das zerhaut den Planern das ganze Konzept. Im Gegensatz dazu würde das bei einer zweispurigen Variante nicht passieren, wenn die Kreuzungen gut gebaut sind. Auf diese Linksabbiegerspur muss man dann aber zwingend verzichten.
Das würde den Autofahrern aber nicht gefallen.
Logisch schimpfen da manche: Aber was haben sie jetzt erreicht? Nach der jetzt beschlossenen Planung wird die Königsbrücker Straße für alle, die bisher Bahn fuhren, unattraktiver. Wetten, dass von den vielen Tausend Fahrgästen der Straßenbahn dann wieder einige aufs Auto umsteigen? Exakt diese Autos stehen aber dann auch wieder an der Kreuzung vor anderen Autofahrern, die brauchen Parkplätze, die machen Lärm und Abgas. Gerade für Autofahrer und für den Verkehrsfluss wäre es besser gewesen, wenn viele der anderen Autofahrer in die Bahn steigen würden und wenn viele Autos – wie es geplant und versprochen war – auf den Verkehrszug Waldschlößchenbrücke gelenkt würden. Mit der beschlossenen Planung sorgt man auch dafür, dass sich die große Investition in die Waldschlösschenbrücke überhaupt nicht effizient auswirken kann.
Baubürgermeister Jörn Marx führt als Argument für eine breite Königsbrücker an, dass Dresden wächst, die Zulassungszahlen steigen und die Verkehrsprognose wachsende Autozahlen vorhersagen. Ist das falsch?
Prognosen sind Wenn-dann-Aussagen über die Zukunft. Wenn Sie annehmen, dass Benzin und Diesel ab sofort ständig billiger wird, dann würden zukünftig mehr Autokilometer zurückgelegt. Das aber ist einfach nicht zu erwarten. Die gesamten in der Stadt gefahrenen Autokilometer sinken. Viele steigen aufs Fahrrad um, die DVB haben ein tolles Angebot und steigende Fahrgastzahlen, Carsharing setzt sich durch, viele Jüngere kommen ganz gut ohne Auto aus: Eine glaubwürdige Prognose sollte das einbeziehen. Die in Dresden gefahrenen Autokilometer werden allein aus demografischen Gründen auch in Zukunft sinken, auch wenn die Stadt auf Kosten des weiteren Umlandes derzeit wächst.
In einer Studie haben Sie 210 Straßenbauprojekte in Sachsen und deren Planung untersucht. Was ist dabei herausgekommen?
Wir haben die vorher verkündeten Zahlen und die nachher gemessenen Zahlen einfach verglichen, mit einem unglaublichen Ergebnis: Praktisch immer sind die Prognosen viel zu hoch. Da liegt ein systematischer Fehler vor, im Durchschnitt sind die Prognosen um 30 bis 40 Prozent zu hoch. Besonders schlimm ist es bei Autobahnen, Bundes- und Staatsstraßen. Bei innerstädtischen Straßen ist unsere Datenbasis derzeit noch kleiner, aber auch dort sind die prognostizierten Verkehrsmengen um 28 Prozent höher als die eingetroffenen.
Was ist daran so schlimm?
Das ist ärgerlich, weil damit ganz einfach Geld vergeudet wird. Man darf das bitte nicht auf jeden Einzelfall beziehen, aber im Durchschnitt wird im Straßenbau bei uns zu großzügig und zu teuer gebaut – schauen Sie sich doch die Musterbeispiele Waldschlösschenbrücke und Königsbrücker an. Man könnte genau den gleichen Verkehrseffekt auch billiger haben, und mit dem Restgeld könnte man Schlaglöcher in der Anwohnerstraße flicken, oder einen Unfallschwerpunkt entschärfen, oder sogar Kitas sanieren oder Lehrer einstellen – suchen Sie sich was aus. Wer jetzt Straßen überdimensioniert baut, sorgt langfristig sogar dafür, dass bald auch viel Geld für die Instandhaltung dieser eigentlich unnötigen Straßen gebraucht wird.
Was kann die Stadt Dresden tun? Auch wenn die Verkehrsprognosen angeblich falsch sind, muss sie sich doch daran halten.
Nein, man muss sich an nichts halten, das unrealistisch ist. Die Stadtverwaltung hat doch selbst viele Prognosen erstellt.
Dann stellt sich aber das Land quer, wenn es um Fördermittel geht.
Richtig – manchmal sind die Vorgaben der Landesdirektion einfach nur kontraproduktiv. Und trotzdem: Wenn wir mit viel Fördergeld etwas bauen, das uns hinterher 30 Jahre ärgert, ist das auch nicht sinnvoll. Dann lieber weniger Fördergeld, aber das sinnvoll verwendet.
Was wünschen Sie sich für die Königsbrücker Straße?
Verkehrspolitik mit mehr Augenmaß. Eingangs habe ich unsere Stadträte kritisiert – aber die wählen doch wir. Wir könnten doch jemanden wählen, der einfach längerfristig denkt, der sich Sorgen um Dresden in 30 Jahren mach. Schauen Sie sich doch die Wahlplakate gerade an. Da verspricht eine Partei: „Damit Autofahrer eine Stimme haben.“ Als ob sie bisher keine gehabt hätten, und als ob diese alte Autofahrer-Betonpolitik langfristig den Autofahrern überhaupt helfen würde. Ganz ehrlich, ich kenne keine Stadt vergleichbarer Größe in Europa und weltweit, wo der Verkehr trotz aller Knackpunkte so flüssig und staufrei läuft wie in Dresden. Da würde ich mir etwas mehr Ehrlichkeit und Langfristigkeit wünschen, auch bei der Debatte um die Königsbrücker Straße.
Das Interview führte Tobias Winzer.