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Nordhäuser Doppelzorn

Ihr Werk ist pleite, seit Juli halten sie es besetzt. Nun soll das Fahrradwerk Bike Systems in Nordhausen weiterlaufen –auf sozialistische Art.

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Von Steffen Kraft

Die Arbeiter spielen jetzt immer „Mensch ärgere dich nicht“. Sie brauchen das. Sie haben sich viel geärgert in letzter Zeit und auch Angst gehabt. Nun sitzen sie in einem Zelt aus groben Plastikplanen und spielen. Das machen sie schon seit Juli so. Doch bald soll damit Schluss sein. Die Arbeiter wollen sich erheben.

Sie wollen zurückkehren ans Band, auf die Knöpfe drücken und alle Räder wieder anlaufen lassen. Es soll wie früher sein, bloß dass hinter den Maschinen dann kein Chef mehr steht. Nur sie stehen noch davor. Sie wollen sich die Produktionsmittel aneignen. Die Chefs haben hier keine Verwendung mehr dafür. Genau wie für sie.

Seit 10. Juli halten Beschäftigte der Bike Systems GmbH in Nordhausen, Thüringen, ihre Fahrradfabrik besetzt. Die Arbeiter wollen verhindern, dass die Produktionsanlagen des insolventen Betriebs demontiert und verkauft werden. Nun soll eine Idee die Beschäftigten retten. 125 Arbeiter wollen die Produktion in Eigenregie wieder anlaufen lassen und ein „Strike-Bike“ herstellen. Es soll rot sein.

Auf dem Werksgelände kokeln Scheite im Feuerkorb. Ihre Zentrale haben die Nordhäuser Fahrradwerker aus Planen und alten Eisenbahnpaletten gebaut. Am Eingang hängt eine alte Feuersirene. „Damit wir Alarm schlagen können“, sagt ein runder Mann mit Baseballkappe und grauem Kapuzenpulli. Er meint: Falls „die Heuschrecken“ kommen, um alles mitzunehmen.

Werkswache rund um die Uhr

Der Mann heißt André Kegel. Er ist 29 und Vorsitzender des Vereins, den die Belegschaft vor Wochen gegründet hat. Er soll sie zurück an die Fließbänder führen, die seit Ende Juni still stehen. Wenn jetzt die Investoren kämen und die Maschinen abbauten, es wäre das Ende des Projekts „Bikes in Nordhausen“. So haben sich die Fahrradwerker zu einer Form des Arbeitskampfes entschlossen, der lange vergessen war: Sie haben das Werksgelände eingenommen, eine Besetzerzentrale aufgeschlagen und bewachen die Fabrik im Schichtbetrieb rund um die Uhr.

Kegel zieht die Zeltplane zur Seite, ihm schlägt der Geruch von Gulasch entgegen. Draußen neigt sich der Tag. Vielleicht zwölf Leute haben sich eingefunden. Es ist die Spätschicht. Die Besetzer haben ihre Zentrale in zwei Räume geteilt. In einem liegen die „Mensch ärgere dich nicht“-Spiele auf den Tischen, im anderen brodeln Gulaschsuppe–und Wut. „200 000 Fahrräder muss das Werk pro Jahr produzieren, um wirtschaftlich zu sein“, sagt Kegel. „Es gab Zeiten, da hatten wir mehr als 350 000.“ Tchibo, Aldi, Rewe, Quelle, Otto – alle hätten bei ihnen gekauft. Den Leuten von Lone Star habe das wohl nicht gereicht.

Für die Besetzer ist der Gegner klar. Es ist eine texanische Investmentgesellschaft, deren Namen sie auf ein Transparent am Fabrikzaun geschrieben haben: „Wir kämpfen gegen Lone Star.“ Als die Investmentgesellschaft 2005 das Werk kaufte, sagen die Arbeiter, sei sie gar nicht an der Fahrradproduktion interessiert gewesen, sondern habe lediglich–zu ihren Gunsten–den Markt bereinigen wollen.

Die Theorie geht so: 2005 kauft eine Tochter der Lone Star das Werk. Schon Ende 2006 verkauft die neue Eigentümerin Aufträge und Kunden an den Konkurrenten, die Mitteldeutsche Fahrradwerke AG (Mifa) im 40 Kilometer entfernten Sangerhausen. Zugleich erhält die Lone Star ein größeres Aktienpaket der börsennotierten Mifa. Als der Verkauf des Nordhäuser Fahrradwerks bekannt wird, schadet das dem Kurs der Mifa-Aktien nicht.

Produktion mit Vorkasse

„Wir wollen zeigen, dass wir hier rentabel produzieren können“, sagt Kegel. Er hat einen Packen Briefe dabei. Es ist der Erfolg des Tages: „Bestellungen“, sagt er. 1800 Aufträge mindestens müssen die Nordhäuser Arbeiter zusammenbringen, um die Produktion eine Woche lang kostendeckend hochfahren zu können. Die Zeit drängt, der Stichtag ist der 2. Oktober, morgen. Kegel hofft, dass bis dahin genug Menschen den Bestellschein von der Internetseite www.strike-bike.de ausdrucken, unterschreiben und pünktlich 275 Euro pro Solidaritäts-Fahrrad überweisen. Weil sie die Teile für die Produktion noch kaufen müssen, verlangen die Arbeiter Vorkasse.

Etwa 1000 Bestellungen sind für das einfache, aber robuste Rad bisher eingegangen. „Das wird verdammt knapp“, sagt Kegel zu einer Frau mit kurzen blonden Haaren und einem roten Fleece-Pulli. Die sagt nur: „Es muss klappen.“

Es ist Doris Schmidt. Die 56 Jahre alte Frau war zuletzt Bandleiterin und schon zu DDR-Zeiten dabei, das Werk wurde im Jahr 1986 gegründet. Wenn sie in die alte Werkshalle gehe, sagt sie, habe sie „gemischte Gefühle“.

In der Werkshalle riecht es nach Eisenspänen. „Hier kann es sofort wieder losgehen“, sagt Doris Schmidt und blickt auf das Band, das sie früher beaufsichtigt hat. Dann schweigt sie. Am Ende des Bandes, dort, wo früher die fertigen Fahrräder heruntergenommen und verpackt wurden, liegt noch ein „Firmenhandbuch“ mit den Visionen der vormaligen Besitzer. Es ist eine Liste mit Spiegelstrichen:

– Marktführerschaft in Deutschland ausbauen– Marktführer in ausgewählten Regionen Europas sein– europaweiter Anteil von zehn Prozent– mit anerkanntem Markenimage

Es sind Worte, die wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Markenräder für den Fachhandel verkaufte das Nordhäuser Werk schon lange nicht mehr. Und dann, sagt Doris Schmidt, gebe es da diese Sache mit den Auftragswellen: „Fahrräder werden vor allem im Sommer verkauft. Im Herbst hatten wir weniger Aufträge. Es gab Löcher.“ Mit der Zeit wurden die Löcher größer. Ist das Werk überhaupt zu retten?

Das Büro des Geschäftsführers der Bike Systems liegt in dem roten Backsteinbau neben der Fabrikhalle. Im Erdgeschoss war die telefonische Kundenbetreuung. Noch heute mahnen Tafeln: „Keine Reizwörter verwenden!“ Dazu gehörten: „hätte, sollte, könnte, Problem“.

In den Büros ist gerade noch eine Frau aus der Finanzbuchhaltung da, damit die Arbeiter ihre Urlaubsanträge noch abgeben können und „um die letzten Rechnungen“ zu bearbeiten. Sie sagt: „Man hätte das Werk retten können.“ Hätte. Reizwort. Klar, vielleicht hätten 20 oder 30 Leute gehen müssen. „Aber doch nicht alle.“ Ihren Namen will die Frau lieber nicht in der Zeitung lesen, denn wie die Arbeiter bekommen auch die Angestellten im Moment kein Geld. Erst wenn im November das Insolvenzverfahren offiziell eröffnet wird, kann der Insolvenzverwalter das Geld freigeben.

Frederik Müller, der Geschäftsführer, ist nicht da. Er sei gerade Vater geworden, sagt die Frau im Backsteinbau. Am Telefon sagt Müller nur, dass er nichts sagen könne, ohne vorher mit dem Insolvenzverwalter zu sprechen. Etwas gesprächiger ist Marcus Brüning. Er war von Februar 2006 bis April 2007 Geschäftsführer des Werks – bis er in die Geschäftsführung der Mifa wechselte. Er sagt: „Das Werk lief schon seit Jahren nicht profitabel, schon vor Lone Star.“ Nicht umsonst habe die Firma schon im Jahr 2000 einmal Insolvenz angemeldet, die abgewendet worden sei. „Wir haben alle strategischen Optionen abgeklopft“, sagt Brüning. Außerdem hätten viele Mitarbeiter ein Jobangebot von der Mifa erhalten, um in Sangerhausen zu arbeiten.

Zeigen, dass es machbar ist

Für Bandleiterin Schmidt war das nichts. „Klar, die brauchen die Fachkräfte“, sagte sie. Über das Angebot habe sie nicht lange nachdenken müssen. „Vier Tage weniger Urlaub, sieben Euro die Stunde, minus die Fahrtkosten.“ Und dann seien da noch die Arbeitsbedingungen, das Klima unter den Arbeitnehmern. Beleidigungen gebe es, Rempeleien. Und wer krank werde, könne danach gleich zu Hause bleiben. „Nach Sangerhausen wollen selbst Leiharbeiter nicht mehr.“

Wenn die Belegschaft die Bänder in Nordhausen wirklich zum Laufen bringt, könnte Doris Schmidt für eine Woche wieder ans Band. Für sie wäre es vor allem ein Zeichen, auch an einen möglichen neuen Investor, „dass wir noch da sind, dass es machbar ist“. Die Nordhäuser Arbeiter hoffen auf einen Geldgeber aus Berlin, der Interesse an dem Werk angemeldet haben soll. Laut Insolvenzverwalter Wolfgang Wutzke ist allerdings bisher kein Investor in Sicht. Und wenn es nicht klappt? „Es muss klappen“, sagt Doris Schmidt wieder. Dann schweigt sie.