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Wie die Spanische Grippe wütete

Ein Unternehmer und Stadtrat hat den Verlauf der Krankheit 1918/19 in Löbau protokolliert. Sie weist erschreckende Parallelen zu Corona auf.

Von Bernd Dreßler
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In einem Hospital nahe Fort Riley im US-Bundesstaat Kansas – von hier gelangte die Grippe nach Europa.
In einem Hospital nahe Fort Riley im US-Bundesstaat Kansas – von hier gelangte die Grippe nach Europa. © dpa,

Ein riesiger Krankensaal, in dem schwer erkrankt Bett an Bett die Patienten liegen – dieses Foto könnte jetzt entstanden sein. Doch es wurde 1918 gemacht, in einem Hospital nahe Fort Riley im US-Bundesstaat Kansas. Die Aufnahme ist ein unbestechliches Zeitdokument der Spanischen Grippe, die in den USA ihren Ausgangspunkt hatte und über Spanien ganz Europa erfasste. Sie wütete weltweit in mehreren Wellen von 1918 bis 1920, weist erschreckende Parallelen zum aktuellen Corona-Virus auf und – machte auch vor der Oberlausitz nicht halt.

Genau verfolgte Emil Berndt das Pandemie-Geschehen und trug es handschriftlich in seine Chronik ein. Todesanzeigen mit Opfern der Spanischen Grippe in Löbau häuften sich im Herbst 1918.
Genau verfolgte Emil Berndt das Pandemie-Geschehen und trug es handschriftlich in seine Chronik ein. Todesanzeigen mit Opfern der Spanischen Grippe in Löbau häuften sich im Herbst 1918. © Stadtarchiv Löbau

Dabei spielte die Pandemie in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle, weil sie "nicht viel mehr als eine Fußnote des Ersten Weltkrieges war", wie das "Ärzteblatt" 100 Jahre später schrieb. Doch es gab Menschen wie den Löbauer Unternehmer Emil Alwin Berndt, der in Löbau auf der Äußeren Zittauer Straße unterhalb der heutigen Brücke der Jugend seine "1. Oberlausitzer Konservenfabrik" betrieb, aber nicht nur Moos- oder Preiselbeeren konservierte, sondern auch Geschichte. Berndt verstand sich auch als Chronist, seine handgeschriebenen Aufzeichnungen gehören zum Sonderbestand des Löbauer Stadtmuseums. Akribisch notierte er, wie die Spanische Grippe von Löbau Besitz ergriff. Erstmalig am 6. Juli 1918 vermerkte er: "In unserer Stadt tritt die Influenza epidemisch auf."

Dank Berndt lässt sich nachvollziehen, wie sich die Pandemie ausbreitete und wie man versuchte, ihr Herr zu werden. Vom Oktober 1918 stammen die meisten Eintragungen Berndts. 13. Oktober: "In Folge der Erkrankungen wird die Bürgerschule geschlossen… Es sind 60/70 Prozent der Kinder an Grippe erkrankt, auch verschiedene Todesfälle werden gemeldet." 23. Oktober: "In Folge der Massenerkrankungen an Grippe in unserer Stadt wurden sämmtliche Schul- und Lehranstalten geschlossen." 24. Oktober: "Die Sterblichkeit ist eine große. Es finden alle Tage Beerdigungen statt, vier, fünf und sechs an einem Tage sind keine Seltenheiten." 26. Oktober: "Es erfolgt eine Bekanntmachung, nach der es vermieden werden soll, daß sich große Menschenansammlungen in verhältnismäßig kleinen Räumen längere Zeit aufhalten. Es dürfen keine Concerte, Theater, Vorträge oder sonstige Versammlungen abgehalten werden, um dem Ueberhandnehmen der Grippe vorzubeugen. In unserer Stadt sind über 600 Personen von der Grippe befallen. Auch der Gottesdient für den nächsten Sonntag soll ausfallen!"

Berndts Quellen waren verlässlich. Er war eine Person des öffentlichen Lebens, saß im Stadtrat und hatte zudem in seiner Fabrik eine Art Heimatmuseum eingerichtet. Auch den "Sächsischen Postillon" muss er sehr genau gelesen haben, wobei Informationen über die Spanische Grippe dort kaum auf den ersten Seiten standen. Meist waren es, wenn überhaupt, unscheinbare Zehnzeiler in der Spalte „Oertliches und Sächsisches“. Berndt ist davon offenbar nichts entgangen. Dadurch ergibt sich ein detailreiches Bild über das damalige Pandemie-Geschehen in Löbau. So wurde am 12. Oktober 1918 berichtet, dass ein Lazarettinspektor starb, "der tags zuvor gesund angekommen war". Ein Mädchen und ein Junge seien nach einem Schüttelfrost innerhalb 24 Stunden an Herzschwäche gestorben. 

Am 30. Oktober verlautete, dass die Meldungen bei der Ortskrankenkasse erkennen ließen, dass die Grippe leider nicht nachlasse. Eine Nachricht vom 5. November offenbart, dass die Behörden auch über Lockerungen nachdachten, dabei aber differenziert vorgingen. So ließ die Königliche Bezirksschulinspektion Löbaus Schulen weiterhin geschlossen, weil es in den Klassen noch immer zu viele Kranke gebe. Im Königlichen Seminar und der Seminarübungsschule dagegen könne wieder unterrichtet werden, da von 150 Schülern nur noch etwa zehn krank seien. Am 12. November 1918 schließlich veröffentlichte der "Postillon" eine "Verbots-Aufhebung", diesmal sogar auf Seite 1. Sie setzte die bisherigen Einschränkungen außer Kraft.

Mit Anzeigen im "Sächsischen Postillon" wurden Schulschließungen bekannt gegeben, aber auch Einschränkungen wieder aufgehoben.
Mit Anzeigen im "Sächsischen Postillon" wurden Schulschließungen bekannt gegeben, aber auch Einschränkungen wieder aufgehoben. © Stadtarchiv Löbau

Doch damit war die Spanische Grippe nicht vorbei, eine weitere Welle folgte. Am 7. Februar 1919 registrierte Berndt, dass die Grippe besonders unter den Schulkindern wieder auftritt. Und sie forderte weitere Todesopfer, auch Prominente. Emil Berndt notierte am 6. Juni 2019: "Heute Morgen starb ein um die Stadt Löbau verdienter Mann, der Baudirektor Max Rudert … Derselbe war an Grippe erkrankt, der sich eine doppelseitige Lungenentzündung hinzugesellte, von der er nicht mehr genesen sollte." Der gebürtige Auerbacher hatte unter anderem den Bau des Berggasthofes "Honigbrunnen" auf dem Löbauer Berg projektiert. Rudert wurde nur 52 Jahre alt.

Als Chronist beschäftigte sich Berndt auch mit Statistiken. Er verglich die beim Löbauer Standesamt eingetragenen Geburten und Sterbefälle in den Jahren von 1914 bis 1919. Im Pandemiejahr 1918 beispielsweise standen 112 Geburten 274 Sterbefälle gegenüber. Da in diesem enormen Anstieg der Sterbefälle aber auch die Weltkriegstoten enthalten waren, verwies Berndt ausdrücklich auf den Anteil der Toten "aus dem Felde". 1918 waren das 51, woraus sich ein hoher Anteil von Opfern der Spanischen Grippe ableiten ließ.

Emil Alwin Berndt kannte zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Toten noch nicht, die die Pandemie insgesamt forderte. Allerdings hatte bereits im Oktober 1918 eine Schätzung der "Times" seine Aufmerksamkeit gefunden: sechs Millionen Tote weltweit allein in den letzten drei Monaten. Am Ende wurden für die Zeit zwischen 1918 und 1920 Zahlen zwischen 27 und 50 Millionen Toten genannt, die nichts mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hatten! Davon entfielen rund 350.000 auf Deutschland. Jahrgänge im Alter zwischen 20 und 40 waren besonders betroffen – auch in Löbau.

Der Autor bedankt sich beim Stadtarchiv Löbau für die umfangreiche Unterstützung. Die Rechtschreibung und Interpunktion der Zitate wurde kaum verändert.Die Bürgerschule ist heute die Pestalozzischule, das Königliche Seminar das Geschwister-Scholl-Gymnasium.

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