Wenn Opa nichts vom Krieg erzählen kann

In meiner Hand ein Gewehr, vor mir ein Mann. Er ist Franzose, also töte ich. Ob aus Pflichtgefühl, Angst oder Hass. Besser er als ich. Dann hängt man mir einen Orden an die Brust. Sagt, man sei stolz auf mich. Ich fühle mich gut. 75 Jahre könnte das her sein. Ich kann mir vorstellen, wie es gewesen sein muss. Verstehen kann ich es nicht.
75 Jahre, das ist dreimal so lange, wie ich lebe. Meine Großeltern haben diese Zeit nur als Kinder erlebt, ihre wenigen Erinnerungen sind lückenhaft. Ich selbst hatte noch nie eine Waffe in der Hand, ich war nicht beim Bund, ich habe keine Sekunde Krieg erlebt. Wenn aber Frieden dessen Abwesenheit ist; wie kann ich ihn trotzdem schätzen und verteidigen, wenn ich nicht mal wenigstens durch lebendige Familienerzählungen genauer weiß, was Krieg ist?
Beim Versuch, das zu erklären, kommen wir immer wieder zum Zweiten Weltkrieg zurück. Warum eigentlich? Was geht es mich an, wenn jemand, den ich nicht kenne, vor einer gefühlten Ewigkeit Polen in Schutt und Asche gelegt hat? Schließlich gibt es so viel zeitlich Näheres: Bosnien, Syrien, Afghanistan. Doch der Zweite Weltkrieg ging von uns aus, von Deutschland. Wir können nicht ausschließen, dass wir heute unter keinen Umständen zu etwas Ähnlichem fähig sind.
Eine Wiederholung ist leider niemals ausgeschlossen
Als sie in den Krieg zogen, glaubten viele Menschen sehr ernsthaft daran, das Richtige zu tun. Andere wurden gezwungen. Und eine Wiederholung ist leider niemals ausgeschlossen. Was sie verhindern könnte, ist die Erinnerung. Deshalb brauchen wir sie, deshalb brauchen sie unsere Kinder und Enkel. Und je weiter das Ereignis entfernt ist, desto größere Anstrengungen sind nötig, die Erinnerung wachzuhalten.
Also bitte, liebe Eltern und Lehrer: Drückt unsere Gesichter in den Schlamm der Vergangenheit, zeigt uns die Bilder, lasst uns den Kriegstreibern zuhören. Wir werden uns wehren, denn diese Fragmente kratzen und schmerzen. Doch wir brauchen sie so dringend. Wir haben keinen Opa mehr, der vom Krieg erzählen kann. Das ist schön für Opa. Aber schlecht für die Lebendigkeit der Erinnerung und die Mahnung, die in ihr steckt.
Ich hatte als Schüler eine ähnlich distanzierte Meinung. 1945 erschien weit weg, was interessierte es mich, was jemand, den ich nicht kannte, vor einer gefühlten Unendlichkeit verbrochen hatte? In der zehnten Klasse machten wir dann eine Exkursion. Sie führte uns in eine alte Psychiatrie, in der auch Menschen vergast worden waren. Wir wurden durch die Kammer geführt, ich musste den Kopf einziehen. Eine Frau erklärte, der Raum sei so niedrig, damit weniger Gas nötig sei. Das sollte Geld sparen.
Die kaltblütige Logik traf mich wie ein Schlag, mir wurde schlecht und schwarz vor Augen. Ich verstand etwas. Eine Gruppe war als „falsch“ definiert worden, also wurde sie vernichtet. Auch das ist Krieg, wenn auch ohne Maschinengewehr. Nie hätte ich mich dieser Situation freiwillig ausgesetzt. Doch es war der Moment, in dem ich beschloss, niemals und unter keinen Umständen so zu werden. Ob ich das halten kann? Hoffentlich. Heute reden Menschen oft von Krieg, vor allem Männer. Der Krieg gegen Drogen, der Krieg gegen den Terror, derzeit der Krieg gegen ein Virus. Sie wollen durch das Deuten auf den Feind die Gemeinsamkeit beschwören. Ja, wir sollten wieder mehr zusammenrücken. Nein, dazu will und brauche ich keinen einen großen Feind. Ob ihr nichts gelernt habt, möchte ich rufen. Niemand darf sich an diese Rhetorik gewöhnen, denn sie verharmlost das Gewesene und torpediert das Gedenken. Ich habe Angst vor dem, was sich daraus entwickeln kann.
„Nie wieder!“
Doch da gibt es noch etwas anderes: Dankbarkeit und Respekt. Denn es gibt Menschen, die haben ihr Leben dafür aufs Spiel gesetzt, dass wir heute frei und ohne alles erstickende Ängste leben können. Zwar hat es die Generation meiner Urgroßeltern durch ihre Taten oder ihr Wegsehen und Tolerieren ermöglicht, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust geschehen konnten. Doch die Generation meiner Großeltern hat dafür gesorgt, dass aus benachbarten Konkurrenten Freunde wurden. Und die Generation meiner Eltern hat für die Deutsche Einheit gekämpft. Es wird an uns sein, diese Errungenschaften nicht wieder einzureißen.
Auch wenn es sich heute nur noch um einen Eintrag im Kalender handelt: Es ist eine gute Gelegenheit, uns daran zu erinnern, was wichtig und was alles andere als selbstverständlich ist. Und für mich ist es eine Mahnung, an die Bemühungen meiner Vorfahren anzuknüpfen und ihr Erbe zu bewahren. Denn zwei Worte bleiben aktuell, egal ob 50, 150 oder 500 Jahre nach Kriegsende: Sie lauten „Nie wieder!“ Ob sie Wirklichkeit werden, liegt an uns allein.