Panische Angst und versteckter Wein

Von Dagmar Doms-Berger
Roßwein. Schon damals, nach dem Krieg, hat es eine unsichtbare Gefahr gegeben. Gertraude Block aus Roßwein erinnert sich an die vielen Menschen, die an Typhus erkrankt waren, einer weit verbreiteten Infektionskrankheit. Als Zeichen dafür waren die Häuser mit schwarzen Fahnen beflaggt. Diese Häuser sollte man keinesfalls betreten.
Gertraude Block hat vor wenigen Wochen ihren 90. Geburtstag gefeiert. Als der Krieg endete, war sie ein junges Mädchen mit Träumen und Wünschen. Wenn die rüstige Roßweinerin an den Krieg und an das Kriegsende denkt, fallen ihr spontan Ereignisse aus der damaligen Zeit ein.
Mit dem Rückblick auf die Kriegsjahre erinnert sie sich an die vielen Fliegeralarme. Wenn die Sirenen jaulten, mit einem auf- und abschwellenden Ton aufheulten, war klar, dass es wieder Ernst wird und die Straße schleunigst zu verlassen ist. „Das war furchtbar“, sagt sie.
Sie sieht auch noch die Soldatenzüge, die durch Roßwein fuhren. „Wir jungen Mädels standen damals am Bahndamm und haben den jungen Männern zugewinkt“, sagt sie. Beim Vorbeifahren warfen die Soldaten kleine Zettel mit ihren Adressen aus dem Fenster. Warum, weiß sie nicht.
„Sie wollten sicherlich Kontakt. Meine Freundin hatte sich eine Adresse geangelt und sich über eine längere Zeit mit einem Soldaten geschrieben. Zum Kriegsende stand er plötzlich vor ihrer Tür. Er wusste ja nicht, dass sie ein so junges Mädchen war.“
„Ich hatte eine wahnsinnige Angst.“
Als am 7. Mai auch Roßwein von den Russen besetzt wurde, war das nicht immer einfach für die jungen Mädchen. Den Russen eilte nach den Gewaltexzessen im Osten unter der Zivilbevölkerung ein schrecklicher Ruf voraus. Frauen und Mädchen wurden versteckt, um sie zu schützen. Von Vergewaltigungen und Plünderungen durch Rotarmisten wurde berichtet, aber auch von Bemühungen der Offiziere, die Truppe zu disziplinieren.
Die Gastwirtschaft ihrer Eltern befand sich gegenüber der Turnhalle, in der während des Krieges das Gefangenenlager der Franzosen war und die mit dem Einmarsch der Roten Armee von den Russen bezogen wurde.
„Als die Russen kamen, hatte mein Vater seinen eingelagerten Wein am nahegelegenen Scheunenplatz vorm Stadtbad in eine alte Scheune gebracht.“ Das blieb nicht unentdeckt. Jemand hatte es gesehen und verraten. „Als mein Vater bemerkte, dass die Russen mit dem Wein in den Händen rauskamen, ist er mit mir und meiner Mutter geflüchtet, aus Angst vor Übergriffen.“
Gertraude Block war damals 15, um sie aber jünger aussehen zu lassen und sie somit zu schützen, flocht ihre Mutter ihr Zöpfchen und drückte ihr eine Puppe in den Arm. So zogen sie an der Schule (Oberschule) vorbei zu einer bekannten Familie in die Lommatzscher Straße.
„Ich kann mich noch ganz genau erinnern, dass Russenpanzer an der Schule standen. Dort mussten wir vorbei. Ich hatte eine wahnsinnige Angst.“ Die Familie verbrachte dann eine Nacht in einem Keller und wohnte danach für drei Wochen bei Bekannten in der Nossener Straße. Die Wohnung und die Gaststätte hatten die Russen besetzt.
Im Haus geblieben war nur noch der Onkel. Er war Arzt und pflegte die Verwundeten. „Als wir dann wieder in unsere Wohnung einzogen, hatte mein Vater erst einmal den Herd in Brand gesetzt. Die Russen hatten reichlich gekocht und überall eine Menge Bratöl verspritzt.“
Ein halbes Jahr später besuchte ein ehemals verwundeter Russe Gertraude Blocks Onkel und bedankte sich bei ihm. Er war damals weiter in die Tschechei abkommandiert und danach in die spätere DDR verlegt worden.
Die Episode mit der Ukrainerin ist ihr ebenfalls gut im Gedächtnis geblieben. Es war wenige Monate nach dem Krieg, als jemand nachts ans Fenster der Gastwirtschaft klopfte. Es war eine junge Frau. Wie sich herausstellte, war sie Ukrainerin. Sie war von Thüringen gelaufen und wollte weiter nach Osten in die Ukraine.
„Mein Vater bat die junge Frau ins Haus und gab ihr zu essen. Dann holten wir noch meinen alten Kinderwagen vom Dachboden, montierten das Gestell ab, um das Gepäck der jungen Frau für den weiteren Transport darauf zu befestigen. Wir haben sie später zum Bahnhof gebracht.“
Von Roßwein nach Nossen ist die junge Ukrainerin mit einem Güterzug gefahren, von dort ging es mit der Kleinbahn weiter nach Dresden. Was aus der Ukrainerin geworden ist, blieb im Dunkeln. „Wir haben nie wieder etwas von der Ukrainerin gehört, leider“, sagt die 90-Jährige.
Mit dem Topf in die Schule
Gertraude Block besuchte im April 1944 die Höhere Handelsschule in Döbeln. Als der Krieg zu Ende war, schloss die Schule und ihre Lehre verzögerte sich. Erst im September 1946 konnte die junge Roßweinerin ihre Ausbildung zur Kauffrau beenden. Danach ging sie nach Hainichen an die Textilfachschule, um sich zur Weberin ausbilden zu lassen.
„Wir hatten kein Essen in der Schule und so manches Mal hatte ich einen Topf mit Essen dabei“, erinnert sie sich. Der Zug fuhr etwa eine dreiviertel Stunde von Roßwein bis Hainichen. Nach der Webschule hat Gertraude Block in der Tuchmacherinnung als Weberin gearbeitet. Für eine große gewebte Schlafdecke habe sie damals 80 Pfennig bekommen. Zum Feiertag gab es zusätzlich ein Brot.
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