Von Daniel Klein, Rostock
Allein vom Zuschauen wird einem schwindelig. Patrick Hausding wirbelt derart schnell durch die schwül-warme Luft in der Rostocker Neptunhalle, dass man nicht hinterherkommt beim Zählen der Drehungen und Schrauben. Eine große Videowand, auf der Super-Zeitlupen gezeigt werden, ist im Wasserspringen kein technischer Schnickschnack, sondern eine Notwendigkeit.
So konnte gestern auch der Laie erkennen, dass Hausding vom Dreimeter-Brett zweimal patzte und dadurch nur auf Platz fünf kam. Damit blieb der 27-Jährige erstmals seit 2009 in dieser Disziplin bei einer EM ohne Medaille. „Das war ein Fehler zuviel und technisch schwach von mir“, erklärt der Berliner.
2013 wurde Hausding mit seinem Dresdner Turmpartner Sascha Klein Synchron-Weltmeister. Was einer Sensation glich, weil die Chinesen in diesem Wettbewerb als unschlagbar galten. Und was bemerkenswert war, weil das Duo die Sprungserie seit 2008, als beide olympisches Silber holten, nicht verändert hat.
„Wir arbeiten gegen den Trend“, sagt Hausding und schmunzelt. Der Trend ist eindeutig: noch komplizierter, noch spektakulärer. Das lohnt sich im Wasserspringen, weil die Kampfrichter-Noten für die Ausführung mit dem Schwierigkeitsgrad multipliziert werden. Also wird noch schneller gewirbelt, um noch mehr Drehungen in dem freien Fall aus zehn Metern Höhe, der nur 1,2 Sekunden dauert, unterzubringen. „Man hat vor Jahren schon gedacht, dass die Physik ausgereizt ist“, erklärt Hausding. „Da lag man falsch.“
Thomas Köthe arbeitet als Referent am Leipziger Institut für Angewandte Trainingswissenschaften, begleitet die deutschen Wasserspringer auch bei der EM in Rostock wissenschaftlich. Hier würden jetzt Sprünge gezeigt, erzählt er, von denen man in den 1960er-Jahren nicht einmal geträumt hat. Das Nonplusultra ist derzeit der Delfin mit viereinhalb Drehungen vom Turm. „Ein Chinese bekam dafür von den Kampfrichtern kürzlich durchweg die Note 10 und somit 123 Punkte“, erzählt Köthe. Das ist quasi der Weltrekord im Wasserspringen, mehr geht nicht. Die Frage ist nur: Wie lange gilt das noch?
„Drehen sich wie Kanonenkugeln“
„Man denkt, jetzt muss aber mal Schluss sein, aber dann kommt doch irgendjemand, der was Neues auspackt“, sagt Klein und schüttelt ungläubig den Kopf. Meist sind es die Mexikaner, die Vorreiter beim Ausprobieren. Und die sind auch eine der größten Konkurrenten für die amtierenden Weltmeister. „Die Mexikaner sind beide 1,60 Meter groß, wiegen je 50 Kilo – die sind wie gemacht fürs Turmspringen“, erklärt Hausding. „Die drehen sich wie kleine Kanonenkugeln.“
Das deutsche Duo, 1,80 und 1,72 Meter groß, hat den Königssprung noch nicht im Programm. Was vor allem daran liegt, dass sich einer der beiden immer mit Verletzungen herumplagt. Bei Hausding ist es momentan das Knie, bei Klein der Rücken. „Wir wollen nicht auf Krampf irgendwas versuchen“, sagt der Dresdner. „Für Rio ist das Thema aber noch nicht abgeschrieben.“ Bei den Olympischen Spielen 2016 will der 29-Jährige seine Karriere beenden.
Im gesetzten Wassersprung-Alter noch eine neue Schwierigkeit zu lernen, sei nicht so einfach, erklärt Köthe. Überhaupt ist der Drang zu immer waghalsigeren Flugeinlagen auch ein Zeitproblem. „Der Abstand zwischen den Kindern, die mit dem Sport beginnen, und den Weltbesten wird immer größer. Die Zeit zum Erlernen bleibt aber gleich“, verdeutlicht der Sportwissenschaftler. Deshalb wird schon bei den Jüngsten darauf geachtet, dass sie sich schneller drehen können.
Wann aber ist Schluss, wann die physikalische Grenze erreicht? Köthe hebt die Schultern. „Das wüsste ich auch gerne.“ Am IAT simuliert man bereits an Computermodellen Sprünge mit fünfeinhalb Drehungen. Theoretisch ist das kein Problem, die dafür nötige Rotationsgeschwindigkeit erreicht aber noch kein Springer. Noch nicht. „Das wird so schnell auch nichts“, tippt Köthe.