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Pietätloses Wild: zur Fütterung auf den Gottesacker

In Freital-Hainsberg kochen die Emotionen hoch. Von Ratlosigkeit ist die Rede, aber auch von einer Sammelklage gegen die Friedhofsverwaltung. Der Grund? Rehe haben sich auf dem Friedhof breit gemacht. Und sie fressen alles, was ihnen schmeckt: Pflanzen, Schnittblumen, Gestecke. Grund genug für die SZ, der ungewöhnlichen Wildpflege nachzugehen.

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Von Frank Schenke

Es war schon ein kapitales Stück, das sich da den Weg durchs Gebüsch brach. Ein knapper Meter Schulterhöhe, nicht einmal zwei Meter entfernt, Mensch und Tier waren gleichermaßen erschrocken. Ein kurzer Blickkontakt – dann stob das Tier davon. Schauplatz dieser eigentlich seltenen Nahaufnahme: der Friedhof Freital-Hainsberg am frühen Nachmittag. Was trieb das Tier auf den Gottesacker?

Dies fragen sich mittlerweile immer mehr Hainsberger, und sie fragen es immer lauter. Die Tiere fressen die Gräber kahl. Sie lieben vor allem die neuen Pflanzen, frisches Grün und saftige Blüten. „Alles, was man mit Liebe zu den Verstorbenen tut, wird zunichte gemacht“, beklagt sich Helga Holdt, die in der Oberhausener Straße in direkter Nachbarschaft zum Friedhof wohnt. „Wer kann da Abhilfe schaffen?“, fragte sie in einem Leserbrief an die SZ. Nicht alle Betroffenen bleiben so ruhig. Von Aussetzung der Friedhofsgebühren ist die Rede, sogar von einer Sammelklage gegen die Friedhofsverwaltung.

Pfarramt ratlos:

Keiner kann uns helfen

Dabei ist das Problem bei den verantwortlichen Stellen schon lange bekannt. „Jetzt fangen Sie auch noch an!“ Christine Püschel vom Pfarramt Hainsberg klingt genervt, als sie am Telefon auf die Rehe angesprochen wird. „Wir haben schon Jagdbehörde, Landratsamt und Ordnungsamt eingeschaltet – keiner kann helfen.“ Dabei kann sie die aufgebrachten Bürger verstehen. Und an der Lösung des Problems werde schon gearbeitet: „Vorrangiges Projekt ist der neue Zaun.“

Doch Löcher im Zaun scheinen nicht die Ursache für die Rehe auf dem Friedhof zu sein: Das Gelände ist lückenlos umzäunt. Fast die Hälfte davon mit neuem Maschendraht, mannshoch. Ingrid Henker, seit fast 25 Jahren auf dem Gottesacker beschäftigt, erinnert sich: „Wir hatten schon immer Wild auf dem Friedhof, aber so viel wie in diesem Jahr war es noch nie.“ Zu DDR-Zeiten hätten die Rehe auf dem Friedhof andere Bedingungen vorgefunden: „Bei Beerdigungen im Winter gab es viel mehr Trockensträuße und keine frischen Blumen. Damit konnten die Tiere nichts anfangen. Aber jetzt ist alles frisch.“

Das Gartenzentrum Freital mit seinen jungen Bäumen und Sträuchern ist bis jetzt von der Wildplage noch nicht betroffen. „Unser größtes Problem sind und bleiben die Schnecken“, sagt Sigrid Bartholomay mit einem Lächeln.

Auf der Hainsberger Straße 27, dem Nachbargrundstück des Friedhofs, wurde dagegen schon oft Wild beobachtet: „Das war nur ganz kurz bei uns. Dann ist es über den Zaun in Richtung Friedhof gesprungen“, sagte Ilona Häcker. Vielleicht haben sich die frischen Blumen auf dem Friedhof unter den Rehen herumgesprochen: Liebling, wir könnten wieder mal äsen gehen, vielleicht auf den Friedhof?

Zaun ist kein Hindernis

für kräftige Tiere

Wenn er wirklich eine tierische Geheimadresse ist, wie könnte man den ungebetenen Gästen den Appetit verderben? Mathias Schöniger, für den Bau des Zaunes auf dem Friedhof verantwortlich, hat Sorgenfalten auf der Stirn. „Ein Zaun ist eine Grundstücksbegrenzung, kein Wildschutz. Den könnten wir aus unseren Mitteln nicht bestreiten.“ Die Tiere haben zu viel Kraft. Erst vor kurzem hatte sich ein Tier auf den Friedhof verirrt. Es geriet in Panik: „Zwei- bis dreimal hat es sich gegen den Zaun geworfen und dann durchgezwängt – und der neue Zaun war wieder kaputt.“ Schöniger ist sich sicher: Wenn der Friedhof für die Rehe dicht ist, dann geht es in den umliegenden Grundstücken weiter. „Eigentlich haben alle hier das Problem.“

Und wenn alles nichts hilft und die Blumen weiter abgefressen werden? „Dann muss eine Glaskuppel drüber“, sagt Mathias Schöniger und lacht. Er und seine Mitarbeiter haben einen Vorschlag: „Man könnte die Tiere betäuben, einfangen und woanders aussetzen.“ Das ist doch immerhin eine Idee. Es fehlt nur noch ein Ansprechpartner.

Bis dahin liegen die Hoffnungen aller Hainsberger auf einem Maschendrahtzaun, grün, plastikummantelt und mannshoch.