SZ +
Merken

Prager Wissenschaftler forschen mit Vorliebe in Zittau

Der Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek ist international ein Kleinod. Nur deutsche Studierende lassen sich hier kaum blicken.

Teilen
Folgen

Von Katja Zimmermann

Die alten deutschen Handschriften aus dem 16. Jahrhundert sind kaum zu entziffern. Zumindest nicht für einen Otto-Normal-Deutschen. Der Tscheche Petr Hrachovec hingegen, ein Wissenschaftler von der Karls-Universität in Prag, liest ohne mit der Wimper zu zucken im Eiltempo ein paar Sätze daraus vor. Von Siamesischen Zwillingen ist die Rede, mit einem Unter- und zwei Oberkörpern. An einer anderen Stelle in den alten Handschriften, die er vor sich ausgebreitet hat, erscheint einer Butterverkäuferin aus Ketten/Chotyne auf dem Weg nach Zittau ein „Schwarzer Mann“, der ihr einen Stadtbrand in Zittau voraussagt. „Der hat sich aber zum Glück nicht erfüllt“, sagt der groß gewachsene 32-Jährige und lacht.

Schon auf den ersten Blick ist zu sehen, dass Petr Hrachovec in seinem Element ist; hier, zwischen den jahrhundertealten, handschriftlichen Chroniken und Rechnungsbüchern im Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek. Kein Wunder: Vor etwa einem Monat hat er seine etwa 1 100 Seiten starke Doktorarbeit „Die Zittauer und ihre Kirchen (circa 1300–1600)“ über die Kirchengeschichte von Zittau eingereicht. Sogar auf Deutsch, „wegen der potenziellen Leser“. Durch Berge von alten Handschriften hatte er sich dafür in der einzigartigen Bibliothek „gewühlt“. Mit seinem 37-jährigen Kollegen Jan Zdichynec, der bereits einen Doktortitel führen darf, ist er heute wieder einmal nach Zittau gekommen. Die beiden sind, wie es in wissenschaftlichen Texten immer so schön heißt, „Schüler“ von Frau Prof. Bobková vom Institut für Tschechische Geschichte der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. Die Professorin hat sich vor allem auf die sogenannten Nebenländer der ehemaligen Böhmischen Krone spezialisiert. Die Oberlausitz zum Beispiel gehörte bis 1635 zur Böhmischen Krone. Auch Dr. Milan Svoboda von der Technischen Universität in Liberec forsche in Zittau und arbeite, so Bobková, wie auch sie und ihre Kollegen, mit Dr. Marius Winzeler von den Museen Zittau zusammen. Jedes Jahr entstünde an dem Institut ungefähr eine Abschlussarbeit, die sich mit Schlesien (einem Teil des heutigen Polens) oder der Oberlausitz beschäftige. Außerdem haben die Prager Wissenschaftler seit 2002 eine Reihe von bisher sechs Büchern herausgegeben. Das erste Buch war nur auf Tschechisch, die nächsten deutsch-tschechisch, die letzten zwei Bände auf Deutsch, erzählen die beiden Männer. Die Forschungen in Zittau sind für die beiden jungen Wissenschaftler immer „eine gute Gelegenheiten, in die Lausitz oder nach Dresden zu fahren“, vor allem Wanderungen im Neiße-Tal oder Besuche von Oybin haben es ihnen angetan. Das passiert vier bis fünfmal pro Jahr. Aber auch Dresden und Berlin besuchen sie gern, hauptsächlich, um neue Literatur zu kaufen. Jan Zdichynec hat sogar zehn Monate in Dresden studiert, Petr Hrachovec zwei Jahre in Dresden und ein Jahr in Leipzig. In letzter Zeit gebe es leider immer weniger Studenten an ihrer Fakultät, die sich mit den vielen noch (recht) unerforschten Quellen in der Oberlausitz auseinandersetzen wollen. Denn es fehlt den jungen Leuten, die heute an der Schule meist Englisch oder Spanisch, aber kaum Deutsch lernen, an Sprachkenntnissen. Außerdem erschwert vieles andere das Lesen. „Gibt es Ausradierungen und Kleckse, liest sich das wirklich schwierig“, erklärt Petr Hrachovec. Manchmal habe auch Pilz- und Schimmelfall sein Übriges getan. Jan Zdichynec, der heute als Uni-Lehrer seine Studenten „zwingt“, solche Handschriften zu lesen, erinnert sich an seine eigenen Anfänge mit dem Lesen alter deutscher Schriften. Etwa einen Monat habe er gebraucht, um sich „reinzulesen“. Dann ging es schneller. Für seine Diplomarbeit habe er aus Zeitgründen sogar noch einen Archivar für eine Abschrift bezahlt. Da Jan Zdichynec auch Latein studierte, konnte er damals zum Glück auch auf in Latein Geschriebenes im Archiv von St. Marienthal zurückgreifen.

Uwe Kahl, der Leiter des Altbestandes und selbst oft Teilnehmer bei Geschichtstagungen, lobt die beiden Herren als sehr engagierte und wissenschaftlich fundiert arbeitende Wissenschaftler. Er hat festgestellt, dass eher Studenten aus Liberec (Reichenberg) oder Ceské Budejovice (Budweis) zum Forschen in den Altbestand kommen als welche von den Unis in Dresden oder Leipzig. Er denkt, dass in Deutschland der Einfachheit halber viele „vom Schreibtisch aus“ ihre Abschlussarbeiten schreiben. Die Recherche an den Basistexten sei aufwändig und koste etwas – kaum ein Student bekommt schließlich Reisekosten erstattet.

2010 bis 2013 habe es ein riesiges über die European Science Foundation gefördertes Projekt gegeben, an dem auch Jan Zdichynec und Petr Hrachovec beteiligt waren. Wissenschaftler aus Rumänien, Portugal, Dänemark, Spanien, die Niederlande, Tschechien, Estland und Polen werteten einige ihrer alten Chroniken unter der Fragestellung aus, wie die Menschen der Frühen Neuzeit regionale Identität erlebten. Jan Zdichynec zieht ein erstaunliches Fazit: „So waren die Zittauer Chroniken auch im internationalen Rahmen wichtig.“