Corona-Proteste: Von bürgerlich bis rechtsextrem

Von Jörg Schurig und Marek Majewsky
Der Marktplatz von Halle ist Schauplatz eines wiederkehrenden Rituals: Sven Liebich, dessen Aktivitäten vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft werden, steht vor dem Rathaus. Vor ihm seine Anhänger. Laut Liebich ist es mittlerweile die 236. Montagsdemonstration in Halle. Zwar steht die Kundgebung eigentlich unter dem Motto "Für Frieden, ehrliche Medien und soziale Gerechtigkeit". Doch tatsächlich gibt es derzeit für die Demonstranten vor allem ein Thema: die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen im öffentlichen Leben.
Proteste gegen diese staatlichen Maßnahmen, die die Ausbreitung von Sars-CoV-2 verhindern sollen, mehren sich in zahlreichen Städten. Vergangenen Samstag demonstrierten laut Veranstalter mehrere Tausend Menschen in Stuttgart, in Berlin kamen eine Woche zuvor 1.000 Menschen zusammen, wobei dies nur zwei größere Beispiele sind. Auch in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt mehrt sich der Protest.
So haben in Thüringen am vergangenen Montag nach Angaben der Landespolizeidirektion etwa 1.200 Menschen gegen Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie demonstriert. Sogenannte Spaziergänge oder Kundgebungen gab es demnach in mindestens 22 Orten, die größten davon in Erfurt und Zeulenroda mit je rund 200 Menschen. Keine der Aktionen sei angemeldet gewesen, berichtet ein Polizeisprecher.

Demonstriert wurde außerdem in Gotha, Gera, Eisenach, Greiz, Stadtroda, Sonneberg, Zeulenroda, Steinbach-Hallenberg und anderen Orten. Die Polizei verzichtete darauf, die Demonstrationen aufzulösen. Dies wäre aufgrund der Masse und der Teilnehmer nicht verhältnismäßig gewesen, erklärte der Sprecher. Es seien auch Familien mit Kindern dabei gewesen.
Nach diesen Beschreibungen unterscheidet sich die Klientel der Demonstranten deutlich: Familien mit kleinen Kindern sind bei Liebichs Demo am Montag in Halle nicht zu sehen. Während der etwa einstündigen Versammlung bezeichnet Liebich die aktuelle Lage als "Corona-Diktatur", Menschen, die einen Mundschutz ohne kritische Kennzeichen tragen, als "geisteskranke Spinner". Und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird schwulenfeindlich beleidigt.
Etwa 20 Anhänger haben sich an diesem Abend versammelt. Einer trägt als Mund-Nase-Schutz eine Sturmhaube. Bei einer anderen Anti-Corona-Demonstration am Samstag zuvor mit etwa 150 Zuhörern gehörte Liebich ebenfalls zu den maßgeblichen Akteuren.
Im Verfassungsschutzbericht aus Sachsen-Anhalt heißt es zu Liebich: "Seinen Aktivitäten liegt eine klare rechtsextremistische Konnotation zugrunde." Er kommentiere tagesaktuelle Beiträge auf eine irreale und diffuse Art, trete vornehmlich als Provokateur und Verschwörungstheoretiker auf. Die Sicherheitsbehörden attestieren ihm eine "hasserfüllte und hetzerische Art".

Rund 200 Meter von Liebichs Kundgebung entfernt hat sich eine Handvoll Menschen versammelt. "Von Rechtsextremen distanziere ich mich", sagt eine Orthopädin, die Teil der Gruppe ist. Auf einem Schild kritisiert sie unter anderem den Mund-Nase-Schutz. Sie war selbst in die Kritik geraten, nachdem sie einen Davidstern mit der Aufschrift "ungeimpft" auf Facebook geteilt hatte. Antisemitisch sei das nicht gewesen, betont sie. "Wenn diese Frau nicht versteht, dass dies eine Holocaustrelativierung ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Keine Ahnung vom Holocaust oder es ist noch schlimmer", sagt Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle.
Kommunalpolitiker müssen die Auflagen gegen das Virus vor Ort umsetzen und werden so zur Zielscheibe von Frust und Hass. Thomas Zenker, parteiloser Oberbürgermeister im sächsischen Zittau, hat nach eigenem Bekunden in den vergangenen Tagen ein "permanentes Gefühl der Eskalation" erlebt. Ausgestattet mit Behauptungen und oft auch Falschinformationen aus sozialen Medien machen selbst ernannte "Corona-Rebellen" gegen Leute wie Zenker mobil.

Anders als bei Katastrophen wie einem Hochwasser seien die Schäden für viele Menschen in der Corona-Krise noch nicht sichtbar, sagt Zenker. Das erschwere das Verständnis für Gegenmaßnahmen. Das Stadtoberhaupt beschreibt eine aufgeheizte Atmosphäre, in der sich Menschen nicht mehr gegenseitig zuhören. Oftmals seien Kritiker der Reglementierung lauter als die anderen und würden so das Bild in der Öffentlichkeit dominieren.
Natürlich müssten alle Entscheidungen des Staates kritisch hinterfragt werden. Es lasse sich aber schwer mit Leuten diskutieren, die keinerlei Argumenten und Fakten zugänglich sind. Zenker sieht in den Anti-Corona-Demonstranten einen Querschnitt der Gesellschaft vereint. Manche Teilnehmer würden die Gefährlichkeit des Virus schlichtweg leugnen, andere den Umgang mit der Krise kritisieren. Es gebe aber auch eine dritte Gruppe - jene, die die Maßnahmen und damit verbundene Beschränkungen richtig fände.

Aus Sicht des Leipziger Parteienforschers Hendrik Träger geht es den Organisatoren vor allem darum, wieder öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. "Die Krise wird von einzelnen Gruppen für ihre Interessen genutzt", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. "Am Anfang sind Krisen oder Herausforderungen wie eine Katastrophe oder Epidemie immer Zeiten der Exekutive." Je länger die Situation jedoch anhalte, umso umstrittener würden die Maßnahmen.
Dass die massiven psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu Frustrationen, Verunsicherungen, Protesten und zu neuen politischen Akteuren führten, sei verständlich und völlig normal, schreibt Matthias Quent, Soziologe und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena in einem Essay.
Doch die Krise werde auch dazu genutzt, Menschen gegeneinander, gegen die Wissenschaft und politische Verantwortungsträger aufzubringen. "Wir beobachten besorgt, dass antidemokratische und rechtsextreme Akteure auch in Thüringen bereits versuchen, die Situation zu instrumentalisieren und die aufkeimenden Proteste zu vereinnahmen: Unter anderem in Erfurt und Gera", so Quent. (dpa)