Von Susanne Plecher
Punkt zwölf stiegen gestern Mittag gut einhundert lila Ballons in die Luft über dem Großenhainer Hauptmarkt auf. Der böige Wind trieb sie schnell gen Norden ab. Die Richtung stimmte grob, denn die Botschaft, für die die Ballons standen, soll vor allem nördlich von Großenhain wahrgenommen werden. Genauer gesagt in der Bundeshauptstadt Berlin. Dorthin machten sich gestern nicht nur lila Ballons auf die Reise, sondern auch Tausende Protestkarten, adressiert an Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU).
„Wir fordern die neue Bundesregierung auf, endlich das Thema Pflege anzupacken und bessere Rahmenbedingungen für Pflegekräfte, Pflegebedürftige und pflegende Angehörige zu schaffen“, erklärte Hans-Georg Müller den Sinn der Aktion. Müller ist Geschäftsführer der Diakonie Riesa-Großenhain, einer von 3500 diakonischen Einrichtungen Deutschlands, die sich am gestrigen Aktionstag beteiligten. Gemeinsam forderten sie von der Politik ein Rettungspaket für die Altenpflege. Sie stapelten symbolische Rettungspakete aufeinander, auf denen die zentralen Themen wie würdevolle Pflege, familiäre Entlastung, attraktive Ausbildung und gerechte Finanzierung abgedruckt waren. Forderungen, die sich auch auf den Protestkarten wieder fanden, die nicht nur Mitarbeiter der Diakonie, Pflegebedürftige und deren Angehörige unterschrieben haben, sondern viele Passanten.
„Die meisten Menschen möchten, dass weniger Zeit für die Dokumentation und mehr für die Pflege an sich aufgewendet wird“, so Katrin Wittig-Lau, Heimleiterin des Seniorenzentrums „Helene Schmieder“. Das ist nicht nur den Pflegebedürftigen eine Herzensangelegenheit. Auch die Altenpfleger selbst wünschen sich mehr Ruhe für die Arbeit mit den Menschen. „Wir möchten gern selbst über die Zeit verfügen, nicht nur nach einem streng getakteten System arbeiten“, sagte denn auch Heike Peters, die in der Sozialstation arbeitet. „Wir möchten eine Pflege, die sich direkt an den Bedürfnissen des Patienten orientiert. Das ist in der ambulanten Pflege zurzeit gar nicht möglich, weil schon immer der nächste Patient wartet.“ Fünf Minuten sind zum Beispiel für die Medikamentengabe vorgesehen. Braucht der Pflegedienst länger, weil ein Patient noch im Bett liegt, verwirrt ist oder einfach Redebedarf hat, werden die zusätzlichen Kosten nicht erstattet. Die Mitarbeiter der Pflegedienste sind gerade im ambulanten Bereich oftmals der einzige soziale Kontakt, den alte Menschen am Tag haben. „Da stehen Pralinen auf dem Tisch und der Kaffee ist frisch aufgebrüht. Aber wir können uns nicht dazu setzen. Dafür fehlt uns die Zeit“, erklärte Regina Heidrich, die für die ambulante Pflege der Diakonie Riesa-Großenhain zuständig ist. Oftmals tue man schon mehr, als abgerechnet werden könne, einkaufen gehen, zum Beispiel, sagte Heike Peters.
„Jeder Mensch möchte am Ende seines Lebens in Würde gepflegt werden. Es darf nicht vom Geldbeutel abhängen, ob man sich das leisten kann“, so Hans-Georg Müller. Pflegekräfte bräuchten faire Bezahlung und bessere gesellschaftliche Anerkennung. Von den geladenen Politikern ließen sich einige von ihren Büros vertreten. Immerhin die Landtagsabgeordnete Kerstin Lauterbach (Die Linke) kam persönlich vorbei. „Wir brauchen eine gute, kostenlose Ausbildung, eine gute Arbeit und gute Löhne, damit der Beruf attraktiv wird“, konstatierte sie.
Was viele nicht wissen: Die Auszubildenden zahlen monatlich 90 Euro Schulgeld, die sich im Lauf der Ausbildung auf etwa 3000 Euro summieren. Der zu zahlende Rest wird laut Altenpflegeausbildungsgesetz von den ausbildenden Heimen auf die Bewohner umgelegt. Zwischen einem und zwei Euro zahlen sie pro Tag dafür. „Wenn wir uns für die Ausbildung entscheiden, leiden unsere Patienten. Dieser Missstand muss abgeschafft werden“, so Hans-Gunter-Große, Heimleiter in Riesa. Knapp 150 Protestpostkarten sind in Großenhain geschrieben und gesammelt worden. In einem kleinen Paket haben sie gestern Abend die Postreise nach Berlin angetreten, den lila Luftballons hinterher.