Von Romy Kühr
Das sorgte für Aufregung: ein Tunnel soll von einem Wohnhaus in der Neugersdorfer Breitscheidstraße unter der deutsch-tschechischen Grenze hindurch ins benachbarte Filipov (Philippsdorf) führen und dort in der Kirche enden (SZ berichtete). „Ist da was dran?“, fragten viele Einwohner.
Sie hat. SZ machte einen älteren Neugersdorfer ausfindig, der sich mit der unterirdischen, historischen Kanalisation in der Stadt gut auskennt. Denn mysteriöse Gänge aus früheren Zeiten scheint es einige zu geben in der Oberlandstadt. Auch vom „Weißen Riesen“, dem ehemaligen Verwaltungsgebäude von Lautex an der Thälmannstraße, soll es einen Tunnel zu einem benachbarten Wohnhaus geben.
Wohnhaus war Maschinenhaus
Der Neugersdorfer weiß aber auch zum Gang an der Breitscheidstraße Interessantes zu berichten: Er soll zum Beheizen der Kirche von Filipov gedient haben. Das muss Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Die Kirche wurde laut Auskunft des zuständigen Pfarrers Josef Kujan 1885 erbaut. Zu der Zeit gehörten die Betriebe auf dem benachbarten Gelände in Neugersdorf der Fabrikantenfamilie Hoffmann, die hier die erste Textilfabrik C. G. Hoffmann gegründet hatte.
Das heutige Wohnhaus, in dessen Keller der Tunnel beginnt, war damals ein Maschinenhaus, weiß der Neugersdorfer. „Da stand eine Dampfmaschine drin, damit wurde Strom erzeugt, um die Webstühle anzutreiben.“ Den Abdampf habe man genutzt, um die Kirche zu beheizen, erklärt er. Dazu wurde der Tunnel vom damaligen Maschinenhaus gebaut und Rohre hinein gelegt. Weshalb der Gang so geräumig ist, erklärt der Geschichtsinteressierte Anwohner so: „Da musste ja auch drinnen hantiert werden, zum Beispiel wenn Reparaturen notwendig waren. Außerdem waren die Rohre sehr lang.“ Reste von Rohren liegen tatsächlich noch im Gang herum.
Dass er tatsächlich in der Kirche von Filipov endet, hat der Anwohner noch von Zeitzeugen erfahren. Er kannte einen Mann, der ihm erzählt hat, dass er als Kind im Tunnel herumspaziert sei. Gekannt hat er auch eine der letzten Hausbewohnerinnen, die den Tunnel und seinen Zweck kannte. Diese Zeitzeugin verstarb erst im Dezember vergangenen Jahres im Alter von weit über 90Jahren. In den 1920er-Jahren verkaufte demnach die Fabrikantenfamilie Hoffmann Teile ihres Betriebes. Die Fabrikgebäude gingen an verschiedene Besitzer. Das Maschinenhaus wurde nicht mehr gebraucht. Das Gebäude an der Fabrik „Linna Koch“ – später Gelenkwelle – wurde deshalb zum Wohnhaus umgebaut. Der erste Mann der verstorbenen Bewohnerin hatte wohl das Haus gekauft und umgebaut. Daher wusste sie von dem Gang und wozu er diente. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, vermutet der Anwohner, nutzten wohl auch Menschen den Gang zwischen Filipov und Neugersdorf heimlich. Nach dem Krieg wurde oben Stacheldraht an der Grenze aufgebaut. Viele Deutsche, die vertrieben worden waren, lebten dann auf der anderen Seite der Grenze in Neugersdorf.
„Sie gingen heimlich rüber, um noch Sachen zu holen“, weiß der Neugersdorfer aus eigenem Erleben. Das kriegte die Regierung spitz und so wurde auf tschechischer Seite hinter der Grenze ein breiter Ackerstreifen eingerichtet. „Der wurde gehegt und gepflegt, sodass man die Fußspuren sehen konnte, wenn dort jemand lang gegangen war“, erinnert sich der Anwohner. Er hält es für wahrscheinlich, dass die Vertriebenen daher den Tunnel nutzten um ihr Hab und Gut zu holen. Schließlich wurde er zugemauert. Er müsste aber noch durchgängig vorhanden sein. Auch ein Chronist aus Filipov bestätigt, dass es auf der Gegenseite einen Zugang gibt.