Von Annegret Schneider
Der Anzug hängt nur für den Notfall in der Kammer oben hinterm Büro. Falls mal jemand Wichtiges kommt und den Chef sprechen will. Und nicht weiß, dass Tom Rass lieber unten in der Werkstatt ist und Pullover, Jeans und derbe Schuhe trägt. Doch solche Leute verlaufen sich selten nach Schönheide, das Dorf im Kreis Aue-Schwarzenberg, das mit Stützengrün als Zipfel Erzgebirge hinein ins Vogtland ragt.
Im Ort kennt man sich. Das war schon so, als Schönheide den Titel „größte Industriegemeinde der DDR“ trug. Heute leben noch knapp 6 000 Leute hier. An Industrie blieb nicht viel. Das größte Unternehmen ist die Schönheider Guss GmbH mit 300 Angestellten, außerdem gibt es Bürsten- und Papierfabriken, Modell- und Schwibbogenbauer. Und es gibt die Firma von Tom Rass, die Sportschuhe produziert. Darunter ein Produkt, das weltweit nur zwei weitere Unternehmen herstellen: Stiefel für Skispringer. Wer bei den Fernseh-übertragungen genau hinschaut, kann die rot-weißen Schuhe an den Füßen der Sportler entdecken.
Ab und zu kommt der Chef mit einem Auftrag für eine Sonderanfertigung in die Werkstatt. Dann geht es meist um prominente Sportlerfüße, die er kurz zuvor vermessen hat. Vor drei Wochen legte er Maß an Adam Malysz, Polens bekanntesten Skispringer. „Er will unsere Stiefel mal ausprobieren.“ Dafür fuhr Tom Rass gemeinsam mit seiner Frau nach Kulm in Österreich, wo der Weltcup Station machte. Am Wochenende darauf waren sie in Titisee-Neustadt.
Zu den überzeugten Rass-Stiefelträgern gehören Simon Ammann, Jakub Janda und Björn Kircheisen, früher Kazuyoshi Funaki und Martin Schmitt. Die Skispringer können die Stiefel frei wählen – als einziges Teil der Ausrüstung, die sonst von einem Sponsor bestimmt wird. „Ein Drittel aller Spezialspringer trägt unsere Schuhe, bei den Nordisch Kombinierten ist es die Hälfte“, sagt Grit Rass. Und weiß, dass sie stolz sein kann auf ihr kleines Familienunternehmen, das mit der Konkurrenz aus Finnland und aus dem nicht weit entfernten Herzogenaurach mithalten kann.
Das Maßnehmen und Anpassen der Schuhe gehört zum Erfolgsrezept der Firma. Der Chef selbst war in seiner Jugend Skispringer und weiß deshalb, wie sich so ein Stiefel anfühlt und was beim Springen wichtig ist. In seiner Jugend trainierte Tom Rass in Oberwiesenthal und lernte dort Jens Weißflog kennen. Der Trainingskollege sprang später mit Rass-Stiefeln von einem Erfolg zum nächsten. Tom Rass indes hat den Sport vor 20 Jahren an den Nagel gehängt.
Sein Vater hatte darauf gedrängt, weil er einerseits gesundheitliche Schäden befürchtete. „Außerdem musste ich im elterlichen Betrieb helfen“, sagt der 41-Jährige, der übrigens den weltweit leichtesten Skistiefel entwickelt hat. Das Paar wiegt mit 1,8 Kilo rund 400 bis 500 Gramm weniger als die Konkurrenz. Das geringe Gewicht erreichen die Schönheider durch besondere Materialien. Leicht müssen die sein, belastbar, kältebeständig. Spezielle Plastik bezieht Rass aus Frankreich, Carbon-Materialien aus Österreich. Die Firma will ihren Vorsprung ausbauen und arbeitet mit der TU Chemnitz zusammen.
Eine weitere Neuentwicklung hat Rass schon auf Lager. „Das Skispringen hat sich verändert – da muss auch der Schuh anders werden.“ Wie, das bleibt Verschlusssache. So lange, bis die Zeit reif ist. Zur Präsentation könnte auch der Anzug aus der Kammer wieder mal zum Einsatz kommen.