Eine Stadtratssitzung, die strengen Formalien unterliegt, ist üblicherweise kein Raum für Bekundungen aus dem Zuschauerraum. Beifall aus dem Publikum, Debatten mit den Zuhörern sind ebenso wenig vorgesehen wie Zwischenrufe, so sieht es die Gemeindeordnung vor.
Am Dienstagabend allerdings geriet dieses Regelwerk-System mächtig aus dem Gefüge. Die Sondersitzung des Pirnaer Stadtrates zum Thema „Industriepark Oberelbe“ (IPO) war gerade einige Minuten alt, als ein Großteil des Publikums wütend den Ratssaal verließ. Vorausgegangen waren tumultartige Szenen, es gab Buh-Rufe sowie die einhellige Meinung der Davonstrebenden: Das hier, skandierten sie, habe mit Demokratie nichts mehr zu tun.
Der eigentliche Protest hatte sich schon eine Stunde zuvor formiert. Auf dem Pirnaer Markt demonstrierten etwa 50 Menschen gegen den geplanten Gewerbepark entlang des Pirnaer Autobahnzubringers. Angemeldet waren zwei Demos, eine von den Grünen, eine von der Bürgerinitiative „Wellenlänge Heidenau“, die in der zurückliegenden Zeit schon Stimmung gegen Flüchtlinge machte, einen Stopp der deutschen Asylindustrie forderte und seit einer Weile den geplanten IPO bekämpft.
Gemeinsam formulierte man abermals die Gegenargumente: unkalkulierbares finanzielles Risiko, bislang fehlende Investoren, befürchtete Umweltschäden, mangelnde Bürgerbeteiligung. Die kritischen Stimmen sollten danach auch im Ratssaal ihren Widerhall finden. Doch es kam alles anders.
Dabei hatten sich Pirnas Stadträte der Grünen, SPD und Linken den Ausgang des Abends anders vorgestellt. Bereits Ende September hatten die Fraktionen Grüne/SPD und Linke eine Sondersitzung zum Thema IPO beantragt – mit der Begründung, dass alle Stadträte auf den aktuellen Sachstand gebracht werden. Die Abgeordneten übten mit diesem Antrag ein sogenanntes Minderheitenrecht aus. Ist ein gewisses Quorum erfüllt – im Pirnaer Stadtrat reichen dafür sechs Stimmen aus – dann muss die Stadt eine Sondersitzung anberaumen, selbst wenn das Rathaus an der Form des gewählten Formates zweifelt. Dieses Quorum-Recht eröffnet vor allem kleineren Fraktionen die Möglichkeit, auch gegen eine große Ratsmehrheit Sondersitzungen einzuberufen.
Überdies wollten die Antragsteller erreichen, dass in der Sitzung Kritiker ihre Sicht auf den IPO darstellen. Geplant war ein Vortrag von Ingo Düring, Mitinitiator der Dohnaer Initiative „Bürgerbegehren IPO am Feistenberg“, sowie des Ingenieurs Peter Mandel. Sie wollten sämtliche Probleme, mit denen der IPO aus ihrer Sicht behaftet ist, erläutern. Danach wäre auch Vertretern des IPO-Zweckverbandes Rederecht eingeräumt worden, um auf die vorgebrachten Argumente zu reagieren. So selbstverständlich das aus klingt, so selbstverständlich war es dann letztlich nicht.
Pirna hatte zunächst noch versucht, die Sondersitzung abzuwenden und die Antragsteller darauf hinzuweisen, dass eine solche streng formell geregelte Sitzung wenig Sinn mache, sämtliche Fakten nochmals zu erörtern. Die Stadträte waren bereits Anfang Oktober in einer nichtöffentlichen Runde von Stadt, Zweckverband und Planern über den konkreten Stand in Sachen IPO unterrichtet worden.
Die Antragsteller hielten aber an ihrem Antrag fest, so war Pirna gezwungen, die Sondersitzung einzuberufen. „Wir haben den Antrag ordnungsgemäß vorbereitet und abgearbeitet“, sagt Stadtsprecher Thomas Gockel. Und das Rathaus zeigte sich kompromissbereit: Die Stadt lud Düring und Mandel ein, in der Sitzung schlug Oberbürgermeister Klaus-Peter Hanke (parteilos) vor, beiden Seiten – Kritikern und Zweckverband – jeweils 35 Minuten Redezeit einzuräumen. Daraus wurde jedoch nichts.
Eine übergroße Mehrheit der Pirnaer Abgeordneten versagte Düring und Mandel die Redezeit. „Die Sondersitzung ist keine Infoveranstaltung. Wir wollen keine Redezeit für Leute, die keine Stadträte sind“, sagte Thomas Gischke (Freie Wähler). Freie-Wähler-Fraktionschef Ralf Böhmer bekräftigte den Antrag. Er sei strikt dagegen, dass hier eine Veranstaltung stattfinde, die nicht in dieses Haus gehöre.
Bei den Antragstellern löste dieses Vorgehen großes Unverständnis aus. „Das alles verwundert mich sehr“, sagte Stefan Thiel, Chef der Fraktion Grüne/SPD. Schon bei den vorausgegangenen Info-Abenden habe es keine Faktenvorträge von IPO-Kritikern gegeben. Ihnen nun auch hier im Rat das Rederecht zu beschneiden, sei völlig unverständlich. „Das deckt sich nicht mit meinem Demokratieverständnis“, sagte Thiel. Auch SPD-Stadtrat Ralf Wätzig zeigte sich entsetzt. Er könne sich nicht erinnern, dass das Rederecht im Rat jemals so eingeschränkt worden wäre. Doch alle Gegenwehr half nichts. Mit Stimmen aus den Fraktionen Freie Wähler, CDU, AfD und „Pirna kann mehr – Pirnaer Bürgerinitiativen“ stimmte der Rat dafür, die Kritiker-Reden nicht zuzulassen.
Obwohl danach keine Entscheidungen mehr anstanden, dauerte die Debatte im Rat noch gut anderthalb Stunden. Steffen Möhrs, Fachgruppenleiter Stadtentwicklung im Pirnaer Rathaus, erläuterte nochmals den aktuellen IPO-Planungsstand, neue Erkenntnisse gegenüber der Info-Runde im Oktober gab es aber kaum.
Die Grünen nutzten unterdessen die Möglichkeit, nochmals generell mit dem IPO abzurechnen. Laut Fraktionschef Thiel fuße der Plan für den IPO auf einer veralteten Wirtschaftspolitik. „In Zeiten des Arbeitskräftemangels ist es geradezu aberwitzig, neue Arbeitsplätze zu schaffen“, sagte er. Außerdem habe man keinen Einfluss darauf, wer sich letztendlich in dem Gewerbegebiet ansiedele. Neue Betriebe würden auch zu großen Verwerfungen führen – weil sie Personal aus hiesigen Betrieben abziehen. „Wir müssen auch mal lernen, ohne stetiges Wachstum zu leben“, sagte Thiel. Zudem dürften die Ackerflächen am Feistenberg nicht versiegelt werden.
IPO-Befürworter bekräftigten indes noch einmal ihr Votum für das Gewerbegebiet, vor allem für einen möglichen Sonderweg. Die Fraktionen Freie Wähler, CDU, AfD und „Pirna kann mehr – Pirnaer Bürgerinitiativen“ hatten vergangene Woche beantragt, die Stadt möge prüfen, ob Pirna notfalls auch im Alleingang auf eigenen Flächen einen Technologiepark entwickeln könnte – sollten sich Dohna und Heidenau aus dem IPO-Zweckverband zurückziehen. „Pirna fehlt vor allem eine industrielle Ausrichtung, um unseren Kindern, unserer Jugend überhaupt eine Chance zu geben, in der Heimat bleiben zu können oder wieder hierher zurückzukommen“, sagt Böhmer. Industrie könne man aber nicht in der Innenstadt oder auf Industriebrachen in Pirna entwickeln, sondern nur an Lebensadern wie Autobahnen, Flüssen und Schienen. Daher müssten laut Böhmer hoch qualifizierte und gut bezahlte Industriearbeitsplätze geschaffen werden. Es gebe dafür aktuell keinen besseren Standort als jenen am Autobahnzubringer.
Das Thema IPO beschäftigt Pirnas Räte am 10. Dezember erneut. Dann beraten die Abgeordneten über den Alleingang-Antrag sowie den Antrag der CDU-Fraktion, dass die Stadt mögliche Formen der Bürgerbeteiligung am IPO aufzeigen möge.
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