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Mehr als der Wolf: Das Leben der Wildtiere in Sachsen

Teil 2 unserer großen Naturserie: Die Wildtiere in unseren Wäldern entwickeln sich überraschend anders.

Von Stephan Schön
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62 Säugetierarten sind in Sachsen einheimisch - zum Beispiel das Rotwild.
62 Säugetierarten sind in Sachsen einheimisch - zum Beispiel das Rotwild. © S. Meyers/ imago-images.de

Sachsens Säugetiere sind wach. Die richtig großen und die ganz kleinen sind aus dem Winterschlaf raus. Selbst die letzten Langschläfer. So sie denn überhaupt geruht haben. Clara Stefen beobachtet dies. Sie ist Biologin und leitet die Sektion Säugetiere in den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden.

Vor ihrem Forschungsinstitut am Dresdner Stadtrand wühlen sich derzeit die Wildschweine sauwohl durchs noch frische Gras. „Denen begegnet man wohl noch am ehesten in der Natur“, sagt Stefen. Vielleicht mit etwas Glück auch mal einem Biber. „Wahrscheinlicher ist er aber eher zu hören als zu sehen.“ Nagend am Baum. An Elbe und Mulde war er viele Jahre schon heimisch. Neuerdings lohnt sich ein Horchen auf das Nagen auch entlang der gesamten Spree und überall an der Schwarzen Elster. 150 Jahre lang war der Biber dort selten gesehen. In den letzten 20 Jahren aber hat er Stück für Stück die gesamten Flussläufe für sich wiederentdeckt. Und er bleibt. Das hilft vor allem den Amphibien.

Das aber ist eine ganz andere Geschichte. Die der Säugetiere Sachsens ist groß genug, um Dutzende Bücher zu füllen. Und obwohl es die mächtigsten Tiere hier sind, sie bleiben die große Unbekannte. Wer lebt wo, und wenn ja, wie viele? Niemand weiß es genau. Vor allem Letzteres basiert auf Beobachtungen, Schätzungen und Annahmen und Hochrechnungen.

Ulrich Zöphel weiß das. Er ist Biologe und Säugetierspezialist vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Was Jäger und Naturschützer in mühsamer Kleinarbeit zusammentragen, versucht er zu einer Gesamtinventur sächsischer Säugetiere zusammenzubringen. Von der Zwergspitzmaus bis zum Elch. Letzterer kommt zwar immer wieder mal hierher, zählt aber noch nicht als etabliert. 62 Säugetierarten sind in Sachsen einheimisch, leben hier und vermehren sich. Reproduzieren nennt es Zöphel. Dazu kommen die Neuen. Elf Arten sind das, die hier irgendwann einmal ausgesetzt wurden oder sich selbst ihren neuen Platz in Sachsen gesucht haben. Sikahirsch und Mink, was eine Art Marder ist. Wildkaninchen und Waschbär. 73 Säugetierarten gelten demnach als hier etabliert. Doch die Lebensräume der Tiere ändern sich immer weiter durch Landnutzung und die Klimaveränderungen. Es gibt Gewinner und Verlierer.

Gewinner und Verlierer

Der frühe Frühling, die warmen Winter bieten Raum für neue Arten, die sonst nur südlich der Alpen und am Mittelmeer zu finden waren. So hat es der Goldschakal schon bis hierher geschafft. Gesichtet wurde er auch in Sachsen schon mehrfach, sagt Ulrich Zöphel. Nur ansässig ist er hier noch nicht geworden. Fotofallen haben auch immer wieder den Luchs ertappt. Im Westerzgebirge und in der Sächsischen Schweiz. Selbst der Wildkatze gefällt es dort zunehmend. Niedergelassen hat sie sich jedoch bisher nur im Leipziger Auwald.

Das am besten dokumentierte Säugetier Sachsen ist der Wolf. Rudel, Alter, Terrain – das wüsste Clara Stefen auch von anderen Arten gern. Es bleibt bei dem Wunsch, ein umfassendes Monitoring über Jahre gibt es so nicht. Während sich um die kleinen Säuger die Naturschutzverbände vor allem kümmern, sind es bei den großen die Jäger. Streckenliste nennt sich das. Jedes erlegte Wild wird dort eingetragen. Wo und was. Und die Wildunfälle. 72 Rotfüchse, aber nur eine Stockente stehen im sächsischen Wildunfallkataster von 2019/20. 33 Waschbären und 68 Rehe. Spannender für Jäger und Förster sind da exotische Sichtungen von Schakal und Wildkatze. Auch die kommen in die Wildtier-Datenbank vom Sachsenforst. Dann wird hochgerechnet, was in den Wäldern so lebt. Aus diesem Wildmonitoring lassen sich zumindest Tendenzen erkennen. Konkrete Stückzahlen jedenfalls zu Sachsens wilden Tieren gibt es auch dort nicht.

Die Tendenzen aber zeigen zumindest eins: „Beim Schalenwild haben wir derzeit Zahlen, die hat es historisch gesehen in der Geschichte Sachsens so bisher noch nicht gegeben“, sagt Ulrich Zöphel. Rehe gehören dort dazu, aber eben auch die Wildschweine. 1945 noch war Wildschwein in Sachsen ausgerottet. Außer Sicht derzeit ist indes der Hamster. Ihm geht es von allen Säugetieren Sachsens mit am schlechtesten. Er ist so gut wie verschwunden. Auch in anderen europäischen Ländern. Die Landwirtschaft allein sei dafür kein hinreichender Grund, sagt Clara Stefen. Genetische Untersuchungen haben ergeben, dass mit deren Vermehrung etwas nicht mehr stimmt, zu wenige Nachkommen. Die Ursachen sind unklar. Stefen hat eine Vermutung. Es gibt biologische Ursachen, die möglicherweise auch etwas mit den warmen Wintern zu tun haben.

Die heimlichen Stars

All die Winterschläfer und all jene, von denen man annimmt, sie machen Winterruhe, hatten eine verkürzte Nacht. Sie gehen später zur Ruhe, weil der Herbst lang und schön ist. Sie müssen früh im Jahr wieder raus, weil das Frühjahr halt zeitiger kommt. Die ersten Fledermäuse waren in Dresden schon im Januar aktiv. Normalerweise bricht ihre Zeit erst im März an. Eigentlich altern Fledermäuse kaum. Sie werden bis 40 Jahre alt und bleiben dabei ziemlich gesund. Wie sich nun der immer öfter nur kurze Winterschlaf auswirkt, ist offen.

Für viele zu früh aufgestandene Tiere ist es jedenfalls eher ein Futterproblem. Die richtige Nahrung, ob Würmer oder Wurzeln, ist halt so noch nicht da. Und auch schnell wieder weg, wenn der Boden wie jetzt trocken und steinhart wird, wo es eigentlich nass sein sollte. Auch das wäre ein Forschungsfeld, ohne diesem bleiben wirklich verlässliche Daten zum Tierbestand nur mit Fragezeichen, sagt Stefen.

Sachsens Wildtiere in Zahlen:

73 Säugetier-Arten leben derzeit im Freistaat.

11 Arten der Säugetiere sind eingeschleppt.

33 Unfälle mit Waschbären gab es letztes Jahr

1 / 3

Zumindest aber haben es die Fledermäuse ins Monitoring geschafft. Wohl auch, weil ihre Aus- und Einflugschneisen besser als jeder Hamster zu beobachten sind. Der Kleinen Hufeisennase, Ende der 80er-Jahre hier fast völlig verschwunden, geht es besser. Dächer ohne aggressive Holzschutzmittel helfen ihr dabei, an die zehn Prozent Zuwachs Jahr für Jahr zu bekommen. Die Breitflügelfledermaus indes wird seltener. Neue Fassaden und Dämmungen machen ihr das Leben in kleinen Spalten schwer.

Von den 62 ganz ursprünglich sächsischen Säugetierarten sind übrigens 20 Fledermäuse. Doch der heimliche Star unter all den Arten ist eine kleine Maus. Die Alpenspitzmaus. „Es gibt im Zittauer Gebirge auf der Lausche ein ganz isoliertes Vorkommen.“ Sonst im Hochgebirge nur zu finden. „Die hatte in der Eiszeit hier eine weite Verbreitung bis zum Harz“, berichtet Zöphel. Jetzt lebe sie zurückgezogen in Hochgebirgen. Und auf der Lausche. Auch deren Winterschlaf ist längst vorbei. Also, ganz genau hinschauen, wenn’s dort beim nächsten Frühlingsspaziergang mal raschelt.

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