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Sachsens erster Wein-Oscar

Sommelier Silvio Nitzsche holt den wichtigsten Preis der Branche nach Dresden. Weil er eine ganz besondere Gabe besitzt.

Von Katrin Saft
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Glück ist für Silvio Nitzsche, wenn er jedem Gast mittels des Weines einen besonderen Moment im Leben schenken kann.
Glück ist für Silvio Nitzsche, wenn er jedem Gast mittels des Weines einen besonderen Moment im Leben schenken kann. © Thomas Kretschel

Kleine Männer neigen dazu, die fehlenden Zentimeter durch ein großes Ego zu kompensieren. Sommelier Silvio Nitzsche ist ein kleiner Mann. Doch seine Größe besteht im Gegenteil: in einer selten gewordenen Bescheidenheit.

Als ihn Moderatorin Barbara Schöneberger am Samstagabend im Schloss Bensberg bei Bergisch Gladbach zum Gewinner des Wein-Oscars 2019 ausruft, ist Nitzsche das sichtbar unangenehm. Der Mann will so gar nicht in die Welt der Gourmet-Diven passen, die mit Reich und Schön ihre Kreationen würzen. Er gehört zu den ganz wenigen Ostdeutschen, die es in dieser Welt bis nach oben geschafft haben.

Nitzsches Weinkulturbar befindet sich im Dresdner Gründerzeitviertel Striesen. Die Straßen gleichen sich hier wie die Linien auf einem Schachbrett. Doch der 44-Jährige braucht keine werbenden Wegweiser. Sein Weinlokal ist ausgebucht. Nicht bis nächsten Sonnabend – bis nächstes Jahr.

Die Bar wirkt unaufgeregt, mehr wie ein großes Wohnzimmer. Nur, dass in den Regalen kein Nippes, sondern Wein steht. Dass sich die Holztische zusammenschieben lassen, ist genauso gewollt wie das Fehlen von weißen Tischdecken. Unkompliziert soll es hier zugehen. Denn der Star des Abends ist kompliziert genug: der Wein in seinen tiefgründigen Facetten. Die meisten Gäste kommen aber nicht nur zum Trinken, sondern wegen des Chefs. Denn der besitzt die Gabe, in einem Wein zu lesen wie in einem Buch, um ihn dann mit blumigen Worten zu beschreiben: „Dieser 2017er Sauvignon Blanc gefällt durch sein intensives Nasenbild“, sagt Nitzsche. „Ein Duftwein, der mit Anklängen von Feige und Johannisbeerblättern verführt. Fast wie ein halber Thailand-Urlaub im Glas.“ Wer möchte da nicht noch ein zweites?

© Thomas Kretschel

Nitzsches Mutter kommt aus der Gastronomie. Insofern wusste er schon frühzeitig, dass der Beruf nicht nur angenehme Seiten hat. Nach der Ausbildung zum Hotelfachmann schaffte er es zum Restaurantleiter – mit nur 21 Jahren. „Die Weinkarte war mir damals ein Graus, weil ich mit all den Namen nichts anfangen konnte“, sagt er. Der Versuch zu verstehen, führte Nitzsche nach Frankreich, Kalifornien, Kanada und schließlich bis in die 3-Sterne-Gastronomie. 2007 erfüllte er sich in Dresden den Wunsch seiner eigenen Weinbar. Nicht vordergründig, um Wein zu Geld zu machen, sondern um seine wachsende Begeisterung für den „Spaßbringer“ mit anderen zu teilen: die Gerüche, die Farbspiele, die Aromen. Spüren, wie die Säure die Zunge leicht pelzig macht. Die Fülle am Gaumen entdecken. Die Länge des Nachgeschmacks und die Wärme des Alkohols wahrnehmen. „Kein anderes Element kann sich so grenzenlos entwickeln und so individuell empfunden werden“, sagt Nitzsche. Er agiert wie ein Fremdsprachenlehrer, der dem Genießer hilft, seine geschmacklichen Emotionen in Worte zu kleiden.

„Was kann ich Ihnen Gutes tun?“, begrüßt er seine Gäste mit einer fast schon unterwürfigen Höflichkeit und geleitet sie zum Sofa mit den Lümmelkissen. Die Kerzen auf dem Tisch werden von kleinen Gaumenfreuden flankiert: Oliven, getrocknete Papaya, Humus zum Brot vom Bäcker nebenan. Dazu Balsamico-Creme, ein leichtes Olivenöl aus Portugal und ein rassig-kräftiges aus Italien. Ankommen und erst mal entspannen! Denn die Weinkarte kann herausfordernd werden: Auf fast 300 Seiten sind knapp 3 000 Weine aufgelistet – artig geordnet nach Ländern, Regionen, Weingütern, Jahrgängen: vom preiswerten Mosel-Riesling bis zum 1982er Cheval Blanc für 1 200 Euro. Doch die meisten Gäste schauen nur flüchtig in das Buch. Sie wollen keine Flasche leeren, sondern sich lieber durch einige der 50 bis 90 offenen Weine probieren und dabei den Empfehlungen des Meisters folgen.

Vor seiner Weinkulturbar.
Vor seiner Weinkulturbar. © Ronald Bonß

Das Geheimnis von Nitzsches Erfolg ist, dass er sich nicht nur auf den Kenner fokussiert, dem er bei einer Mosel-Scheurebe das kernmineralische Aromenfundament eröffnen würde. Er will genauso für den Gerne-Weintrinker da sein, wie er den unbedarften Gast nennt. Der Kenner sei meist vorgefertigt im Geschmacksbild und damit leichter zufriedenzustellen. Beim Einsteiger muss er genau hinhören und dessen Befinden erspüren. Wenn es regnet, rät Nitzsche zu einem anderen Aromenspiel als bei Sonnenschein. Selbst vor dem Wort „lieblich“ schrickt er nicht zurück. Handwerklich ehrliche Vertreter könnten zur passenden Speise durchaus Trinkgenuss sein.

Selten zeigt sich die Branche so einig, wenn es um Kompetenzen geht. „Herr Nitzsche erzählt nicht nur Geschichten, er hat Ahnung von Wein“, sagt der Dresdner Winzer Christian Müller. Winzer Karl Friedrich Aust aus Radebeul sieht in Nitzsche einen „perfekten Mittler zwischen Erzeuger und Gast“, der ganz viel wisse, aber niemals besserwisserisch auftrete. „Er verkauft nicht, was gerade da ist, sondern beschäftigt sich mit Jahrgangstiefen und wartet, bis ein Wein erstklassig ist“, sagt Aust. Vom Weingut Zimmerling in Pillnitz zum Beispiel stehen acht verschiedene Jahrgänge Weißburgunder auf Nitzsches Karte, einige davon längst nicht mehr erhältlich. Der Gast kann spielerisch die Unterschiede erschmecken. Der Gastgeber wirkt dabei wie ein großer Junge, der selbst am meisten Spaß hat – und der sich nicht all zu ernst nimmt. Ein leichter Vinho Verde ist für Nitzsche „ein guter Frühstückswein“. Geht ihm ein Jahrgang aus, steht auf der Karte: „Leider nur noch als Leergut vorhanden.“ Der „Trinkwiderstand“ muss wohl zu niedrig gewesen sein.

Käse entschleunigt

Zum Wein serviert der Sommelier nicht etwa High-end-Küche mit Schäumchen und Chichi, sondern Käse. Das mag profan klingen, ist für Winzer Christian Müller aber die ideale Begleitung. Denn Käse entschleunigt. Anders als ein Steak wird er nicht kalt. Er lässt Zeit, um über die Getränke-Wahl zu fachsimpeln. Und die Weinkulturbar fände sich nicht in bedeutenden Restaurantführern wieder, wenn hier nicht auch der Käse besonders wäre. In der Kühltheke reifen 80 bis 120 vornehmlich französische Rohmilchsorten ihrem optimalen Genusspunkt entgegen. Wenn Mitarbeiterin Jana Weiske die Glasscheibe öffnet, entweicht eine Wolke aus Ziege, Schaf und Bauernidylle. Wie Bibelverse kann Weiske die Vita jedes einzelnen Käses herunterbeten: „Hier haben Sie einen Ardi Gasna vom Schaf aus dem Baskenland auf dem Teller, circa 90 Tage im Keller gereift und dabei täglich mit Salz und Blüten von der Chilipflanze Piment d’Espélette abgerieben. Dadurch entwickelt sich ein intensiver, aber trotzdem zarter, nussiger Geschmack.“ Spätestens bei der vierten Probe geben die meisten auf, sich merken zu wollen, was sie gerade vorgesetzt bekommen.

Seine Weinkulturbar hat nur 20 bis 30 Plätze.
Seine Weinkulturbar hat nur 20 bis 30 Plätze. © Christian Juppe

Den Käse und um die 600 verschiedene Weine verkauft Silvio Nitzsche auch außer Haus. „Der Weinhandel macht 80 Prozent des Umsatzes aus“, sagt er. Mit nur 20 bis 30 Plätzen würde sich die Weinbar allein nicht rechnen. Denn anders als die meisten Gastronomen kalkuliert Nitzsche dort den Weinpreis nicht nach der Faustformel Einkaufspreis mal drei bis fünf. Sieben Euro pro Flasche schlägt er auf den Mitnahmepreis drauf.

Das Konzept hat sich bis zum Genießermagazin „Feinschmecker“ in Hamburg herumgesprochen. Schon mit vielen Auszeichnungen durfte sich Nitzsche schmücken: Weinbar des Jahres, Beste Weinbar, Bester Weinhändler, Beste Weinkarte. Und nun die Krönung mit der wohl wichtigsten Ehrung der Branche – den Wein-Oscar in der Kategorie „Award of Honour“. „Mit diesem internationalen Preis zeichnen wir Persönlichkeiten aus, die keine Winzer sind, aber etwas Besonderes für die Welt des guten Weines leisten“, sagt Madeleine Jakits vom „Feinschmecker“. Silvio Nitzsche steht damit in einer Reihe mit Weinlegenden wie dem britischen Weinkritiker Hugh Johnson oder Eberhard Spangenberg, dem Gründer von Italien-Spezialist Garibaldi. Sein Oscar lenkt den Blick der Fachwelt auf den Osten – ins Land Sachsen, das zwar gute Weine produziert, aber immer noch in der Regionalliga spielt.

„Erfolg ist ein Geschenk, eingepackt in harte Arbeit“, heißt ein Spruch, der in Nitzsches zentimeterdicker Weinkarte steht. Es gebe schon mal Tage, wo er sich von früh bis nach Mitternacht in den Dienst des Weines stelle. „Aber im Gegensatz zu einem Anwalt habe ich ja immer mit etwas Wunderbarem zu tun“, sagt er. Und es klingt, als ob er das ernst meint.

Nitzsche liebt fast alle Weine.
Nitzsche liebt fast alle Weine. © Thomas Kretschel

2 000 bis 5 000 Weine probiert der Sommelier im Jahr. Dabei macht es für ihn einen Unterschied, ob er Weine professionell bewertet oder für seine Gäste aussucht. „In einer Fachjury achte ich auf die Charakteristik, auf das Handwerkliche, auf Weinfehler“, sagt Nitzsche. „Für die Bar suche ich umgekehrt immer nach dem Schönen in einem Wein.“ Die Frage nach seinem Lieblingswein findet er merkwürdig: „Das ist ja so, als würden Sie einen Vater nach seinem liebsten Kind fragen.“ Eigentlich habe er alle gern.

Jetzt, nach der Preisverleihung, wird Silvio Nitzsche eine häufige Frage noch viel häufiger hören: Warum vergrößern Sie die Weinkulturbar nicht? Die Antwort kommt spontan: „Weil sie dann ihren Charakter verliert! Mehr Plätze bedeuten vielleicht mehr Geld, aber nicht mehr Freude.“

Neue Kundschaft tritt ein. Nitzsche, der hinter der Theke fast verschwindet, hält mit dem Nachpolieren eines Glases inne. „Womit kann ich Ihnen Gutes tun?“ Glück, sagt der Sommelier in selten gewordener Bescheidenheit, sei für ihn, wenn er jedem Gast mittels des Weines einen besonderen Moment im Leben schenken könne.