Sachsens Kriegskinder

Pirna. Schlicht ist das Kettchen. Ein kleines Medaillon hängt daran mit einem blauen Stein. Es ist fast achtzig Jahre alt, ein Konfirmationsgeschenk. Helga Härtig aus Obervogelgesang bei Pirna legte es am Morgen des 19. April 1945 um, als sie zur Arbeit im Stellwerk nach Pirna fuhr. Auch ihr Vater war dort an jenem Tag im Dienst. Helga Härtig war gerade 18 geworden. Sie hatte blondes Haar, lachte gern und liebte es, auf eine alte Buche zu klettern, um dort Schlager zu singen. Man stellt sich vor, wie sie vielleicht „Kauf dir einen bunten Luftballon“ darbot. Oder „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“.
Am 19. April heulten kurz vor Mittag die Sirenen. Um 12.05 Uhr fielen die ersten Bomben. Gegen 12.20 Uhr war der Angriff vorbei. Blitzschnell verbreitete sich die Nachricht, dass das Pirnaer Bahnhofsgelände zerstört sei. Helgas Mutter, die beim Schaufeln eines Panzergrabens hatte helfen müssen, eilte in die Stadt. Weinend stand sie vor einem Haufen Schutt. Das Stellwerk war zusammengebrochen. Kein Lebenszeichen von Mann und Tochter. Drei Tage später musste sie in eine Turnhalle. Betrachtete Dutzende Leichen, die zerquetscht waren. Ihren Mann erkannte sie an seiner Militärmarke aus dem Ersten Weltkrieg, die er in der Brusttasche trug. Ihre Tochter an dem Medaillon mit dem blauen Stein.

Ab kommenden Dienstag sind das Medaillon und die Geschichte dahinter im Stadtmuseum in Pirna zu sehen, in der neuen Ausstellung „Kriegskinder“, zusammen mit vielen weiteren Gegenständen und Biografien von Menschen, die als Kind den Krieg in Pirna und Umgebung erlebt haben. Während anderswo gekämpft und gemordet wurde und die Städte zu Trümmerhaufen zerfielen, erlebten Pirnaer Kinder noch so etwas wie unbeschwerte Kindheiten.
Rolf U., damals acht, war viel draußen, spielte mit seinem grünen Telefon, mit Blechautos und Soldatenfiguren. Diese eigentümliche Unbeschwertheit wurde manchmal erst mit den Bombenangriffen auf Dresden und auf Pirna erschüttert – oder nicht: Das einstige Wohnhaus des neunjährigen Winfried B. und seiner Familie bekam einen Volltreffer, alle darin starben. Der Junge glaubte bis zuletzt an Wunderwaffe und Endsieg, durchstreifte die Trümmer und sammelte Bombensplitter.

Andere Zeitzeugen schildern Flucht, Vertreibung und die Mühsal, sich in der neuen Heimat Pirna zurechtfinden zu müssen, wo Flüchtlinge nicht immer willkommen geheißen wurden. An einer Wand hängt eine große Anzahl von Schlüsseln, lauter Mitbringsel von Vertriebenen, die hofften, eines Tages wieder zurückkehren zu können. In einem Film erzählt ein Geschichtslehrer aus Pirna über seine Kindheit in Lodz und die Errichtung des Ghettos. Eine Frau berichtet, wie sie die Vergewaltigung ihrer Mutter durch mehrere sowjetische Soldaten im Dachgeschoss über ihr hörte, ein Ereignis, über das die Familie später nicht mehr sprach. Ein anderer Zeitzeuge erinnert sich, dass die allseits gefürchteten sowjetischen Soldaten besonders freundlich zu Kindern waren und ihnen Lebensmittel schenkten.
Und dann steht man vor der Geschichte von Lissa F., Jahrgang 1930. Ihre Mutter, die in einer Sebnitzer Kunstblumenfabrik arbeitete, bekam 1936 noch ein Kind und eine postnatale Depression. Der Hausarzt regte eine Kur auf dem Sonnenstein in Pirna an. Dort geriet die Mutter in die Mühlen der Euthanasie. 1940 wurde sie auf dem Sonnenstein vergast. Das erfuhr Lissa jedoch erst 1990. Häufige Umlegungen und eine fingierte Todesursache sollten Spuren verwischen. Die Mädchen wurden getrennt bei Verwandten untergebracht und durften ihre Mutter bis zu deren Tod nur zweimal sehen. Der ältere Bruder und der Vater fielen. In der Ausstellung sind einige Kunstblumen zu sehen. Und jene sieben Mark, die Lissa sich mühsam durch Heimarbeit zusammensparte, um ihre Ausbildung zu finanzieren.

Die Ausstellung ist das Ergebnis eines Projekts, das vor knapp zwei Jahren begann und mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes finanziert werden konnte. „Wir hätten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes unser Archiv öffnen und unsere Bestände nutzen können“, sagt Museumsleiter René Misterek. „Aber es erschien uns wichtiger, die letzten Zeitzeugen des Krieges heranzuziehen, sie erzählen zu lassen, was hier alles passiert ist, wie sich das angefühlt hat. Das ermöglicht einen emotionalen, direkten Zugang zum Thema, gerade bei Menschen, die den Krieg nicht erlebt haben.“
Im Herbst 2018 begab sich Kuratorin Katrin Purtak auf die Suche nach Zeitzeugen aus der Region, in Pflegeheimen, Kirchgemeinden und bei städtischen Veranstaltungen. Im Sommer 2019 wurden die ersten Ergebnisse in einem Geschichtsmobil, einem umgebauten Frachtcontainer, in verschiedenen Orten des Kreises Pirna vorgestellt. Tausende Besucher kamen, Alte und Junge. „Gerade die Schüler hat das sehr bewegt“, erzählt Katrin Purtak. Immer mehr Zeitzeugen meldeten sich. Über 60 Interviews führte die Kuratorin. Auf große Resonanz stießen auch mehrere Vorträge im Museum mit Psychologinnen zur Frage, wie sich die Schrecken des Krieges auf die Menschen auswirkten – bis heute.
Die Kriegskinder und ihre Nachkommen sind seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Es gibt inzwischen eine Fülle von Büchern über sie, von denen einige Bestseller waren und sind, beispielsweise die Bücher der Kölner Journalistin Sabine Bode. Bis dahin wurde selten öffentlich erörtert, warum manche Menschen aus der Kriegsgeneration sich intensiv dem Kampf um die Existenz widmeten, Wiederaufbau und materiellem Wohlstand, dabei aber lebenslang kalt und abweisend zu ihren Kindern waren, Berührungen mieden, mit Gewalt oder cholerischen Ausbrüchen auf Widerspruch reagierten.
Im höheren Lebensalter ein jahrzehntelanges Schweigen brachen, plötzlich von entsetzlichen Erlebnissen berichteten oder von furchtbaren Dingen, die sie selber tun mussten oder von sich aus getan haben. Warum sie unvermutet weinten, beispielsweise beim Silvesterfeuerwerk, viele Jahre nach Kriegsende. Eine der Pirnaer Zeitzeuginnen schildert, wie das rot erleuchtete Landratsamt ihr heftiges Unbehagen einflößte. Als Zweijährige war sie mit den Eltern aus dem brennenden Dresden geflohen. Sie erinnert sich, wie die Mutter ihr eine viel zu große Gasmaske aufsetzen wollte, die das Kind immer wieder abriss, und die ganze Szenerie war umgeben von einem roten Leuchten.

Es ist eine große und sehr schwierige Aufgabe, sich dieses Themas ausgewogen anzunehmen. Auf der einen Seite ist die subjektive Sicht von Menschen, die Angst, Todesnähe und Hunger erlebten in einem Maße, das ihnen heute noch Tränen in die Augen treibt. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass es die schweren und millionenfachen Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch Deutsche in der Zeit des Nationalsozialismus waren, die zu diesem Elend führten. Diese beiden Aspekte können nicht getrennt bedacht werden. Deshalb sollte in Pirna mit der Eröffnung der Kriegskinder-Ausstellung ein umfangreiches Begleitprogramm beginnen, das hilft, das Gezeigte einzuordnen, sich differenziert und in viele Richtungen damit auseinanderzusetzen.
Geplant sind Projekte für Schüler, Führungen, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen mit Historikern und Psychologen. Wegen Corona ist nun alles anders. „Wir sind froh, überhaupt und unter Auflagen öffnen zu können“, sagt Museumschef René Misterek. „Wir werden aber die Ausstellung nicht im Oktober schließen, sondern sie länger laufen lassen. Und wir hoffen, im Herbst das Begleitprogramm nachzuholen.“ Auf jeden Fall wird im Sommer das Buch zur Ausstellung erscheinen mit Aufsätzen von Wissenschaftlern zu Aspekten wie Bombenkrieg, die Täter im nationalsozialistischen Pirna, Suizide zu Kriegsende, Besatzung, Traumaforschung.

Wenn man sich mit Zeitzeugen aus Pirna unterhält, wird deutlich: Allgemeine Aussagen über die Kriegskinder lassen sich kaum formulieren. Nicht jeder, der Schreckliches erlebt, ist ein Fall für Psychologen. Jeder Mensch geht mit schwierigen Erfahrungen anders um. Ruth R., Jahrgang 1927, wuchs in einem materiell bescheidenen, christlichen Elternhaus auf. Jedes Jahr hat der Vater die Familie vor dem Tannenbaum fotografiert, mit Selbstauslöser. Zu Kriegsende wurden beide Eltern schwer krank, und die Tochter wurde mit knapp 20 Jahren zur Ernährerin der Familie. 1947 starb der Vater, wenig später die Mutter. „Ich war nicht traumatisiert, aber es hat mich geprägt, es hat mich gestärkt“, sagt sie heute. „Vergessen kann man das nicht. Aber man kann damit leben.“
Brigitte Stehli, geborene Härtig, sieht das ähnlich. Als ihre Schwester Helga und ihr Vater am 19. April 1945 starben, war sie neun. Ihre Mutter nahm der großen Schwester das Medaillon mit dem blauen Stein ab, nahm es mit nach Hause, machte es vorsichtig sauber. „Meine Mutter gab es mir. Und ich habe es zu besonderen Anlässen getragen“, erzählt Brigitte Stehli. „Bei Familienfeiern habe ich es immer in die Hand genommen, und wir haben über Helga gesprochen.“
Die Jahre vergingen. Der große Bruder hatte den Krieg überlebt. Die Mutter vermietete Zimmer und heiratete 1950 wieder. Brigitte lernte und arbeitete bei der Eisenbahn, heiratete. Die Mutter starb. Aber das Medaillon blieb und zog mehrfach mit um. Seit einigen Jahren geht Brigitte Stehli an jedem 19. April zu dem Denkmal der Dresdner Künstlerin Konstanze Feindt Eißner, das 2004 „Gegen das Vergessen“ errichtet worden war, unweit des ehemaligen Stellwerks. Die alte Dame legt Blumen nieder, macht etwas Unkraut weg. Und denkt an ihren Vater und Helga.
Die Ausstellung:

Die Ausstellung im Stadtmuseum Pirna, Klosterhof 2, ist ab 5. Mai zu sehen, Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr. Mehr Infos auf der Website.