Sachsens Sportstars gegen Sonderrolle des Fußballs

Dresden. Positive Corona-Tests bei Dynamo und jetzt auch Erzgebirge Aue, wo das gesamte Team bis Donnerstag in Quarantäne gesteckt ist, dazu der Video-Eklat von Hertha BSC: Die aktuellen Entwicklungen hat es gar nicht gebraucht, sie sind lediglich Bestätigung für Christina Schwanitz. Die Saison-Fortsetzung im Profifußball ist für die Weltklasse-Kugelstoßerin schlicht nicht zu akzeptieren. „Ich finde es nicht schön, dass der Fußball eine Sonderrolle einnimmt und sich über alles hinwegsetzt, nur weil die Reibung zwischen Daumen und Zeigefinger stimmt“, sagt die gebürtige Dresdnerin, die in der Nähe von Chemnitz lebt, und sie steht mit ihrer Meinung nicht allein da.
Die SZ-Umfrage unter sächsischen Top-Athleten vor der Entscheidung der Bundesregierung am Mittwochnachmittag ist eindeutig: Olympiasieger, Welt- und Europameister verschiedener Sportarten sind gegen die Wiederaufnahme der Bundesliga-Saison. „Wir befinden uns in einer Phase, in der alle zusammenhalten sollten. Denn alle durchleiden jetzt das Gleiche. Extrawürste gehören da für mich nicht dazu“, sagt Johannes Vetter, Speerwurf-Weltmeister von 2017.
Johannes Vetter: Der Staat verkauft die Gesundheit
Der Dresdner erklärt, dass er zu den vielen Menschen gehöre, die gerne Fußball schauen. Doch es gebe eben auch genügend, die jetzt gerne Leichtathletik gucken würden, außerdem Volleyball, Rudern, Kanu, … Seine Liste ist gefühlt endlos, das Verständnis für die Abstimmung zugunsten der Bundesliga nicht. „Wenn dem wirklich so ist, dann verkauft der Staat die Gesundheit des Volkes und der leidenden Menschen an den Fußball. Das ist pervers“, betont Vetter.

Zumal, und auf diesen Punkt weisen vor allem Schwanitz sowie die Kanuslalom-Weltmeisterin Andrea Herzog aus Meißen hin, bleibt das gesundheitliche Risiko. „Bei allen Regeln, die jetzt für alle bestehen, ist es doch absurd, wenn wieder 20 Spieler im Strafraum stehen und ins Kopfballduell gehen wollen“, sagt Vetter. Ohne Körperkontakt sei Fußball nun mal nicht möglich, erinnert Schwanitz und vergleicht das mit der aus ihrer Sicht richtigerweise abgesagten Leichtathletik-EM Ende August in Paris. „Wer sagt uns denn, dass der Virus nicht noch mal viel stärker ausbricht“, fragt sie.
Tina Punzel: Tausende Tests zu kaufen, ist bedenklich
Auch Herzog sieht die Gefahr, dass es mit zu vielen Lockerungen eine neue Infektionswelle geben könnte, so sehr sie den Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität versteht. Ihr und den anderen Top-Athleten geht es da ja nicht anders. Doch Herzog kritisiert die zigtausenden Tests, die der Profifußball nun benötigt. „Also fehlen Tests für andere Menschen“, schlussfolgert sie. Ähnlich sieht es die Dresdner Wasserspringerin Tina Punzel. „Ich halte es für bedenklich, wenn dafür Tausende Tests gekauft werden müssen. Und andere Sportarten schaffen es auch, die Saison abzubrechen und trotzdem einen deutschen Meister zu küren“, betont die Europameisterin.
Natürlich ist allen Befragten bewusst, dass der Fußball längst auch eine wirtschaftliche Komponente besitzt. „Es geht um so viel Geld, das können wir als Normalverbraucher gar nicht nachvollziehen“, mutmaßt Schwanitz.
Tom Liebscher: Warum gibt es keinen Plan B?
Dass aber schon zwei, drei Monate ausreichen, um die gesamte Branche in Existenzkrisen zu versetzen, verwundert Kanu-Olympiasieger Tom Liebscher. „Die große Frage für mich ist, wieso alles so Spitz auf Knopf genäht ist, dass es scheinbar gar keinen Plan B gibt? Da werden einerseits zig Millionen für Transfers ausgegeben und andererseits können die Fußballvereine so eine Zeit nicht aushalten. Das passt nicht zusammen“, argumentiert er und erzählt von seiner ehrenamtlichen Arbeit im Vorstand des Kanuclubs Dresden. Der sei selbstverständlich kein Unternehmen, „aber ich weiß, dass wir auch für solche Krisenzeiten einen Plan haben“, so Liebscher.

Selbst der mutmaßlich größte Fußballfan unter den acht Befragten – Dresdens zweimaliger Ruder-Olympiasieger Karl Schulze ist seit Kindertagen eingefleischter Dynamo-Fan – plädiert vehement gegen die Saisonfortsetzung. „Dass es der Fußball nicht einmal mehr nötig hat, vor Fans zu spielen, zeigt, in welcher dekadenten Welt die leben. Da geht es nicht mehr um den Sport, denn der lebt ja von den Fans und der geilen Atmosphäre im Stadion“, meint Schulze.
Jens Weißflog: Fußballklubs sind Wirtschaftsbetriebe
Skisprung-Legende Jens Weißflog, als Hotelier in Oberwiesenthal selbst hart von der Corona-Krise betroffen, wägt ab. „Einerseits ist Fußball die schönste Nebensache der Welt. Zum anderen sind das Wirtschaftsbetriebe“, sagt er. Deshalb stelle sich für ihn die Frage, wen der Saisonabbruch finanziell am meisten treffen würde. „Da betrifft es meines Erachtens aber nicht die Profis, sondern den kleinen Mann im Fußballgeschäft – vom Platz- bis zum Zeugwart“, verdeutlicht er und verweist auf die Millionensummen, die von den TV-Sendern bezahlt werden: „Wir bezahlen sie teilweise mit unserem Rundfunkbeitrag für ARD und ZDF. Dafür kriegen wir dann etwas im Free-TV.“

Wenn schon Geisterspiele, findet Liebscher, dann müssten die unbedingt im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen sein. „Ich erwarte außerdem, dass wir dann aber auch gemeinsam Ideen und Konzepte entwickeln, wann und unter welchen Voraussetzungen der restliche Sport in den Trainings- und Wettkampfbetrieb zurückkehren kann – das muss kommen“, sagt der Top-Kanute.
Francesco Friedrich: Kleine Vereine haben zu kämpfen
Francesco Friedrich, der Bob-Dominator aus Pirna, hat prinzipiell erst mal großes Verständnis für den Profifußball. „Jeder will wieder seinen Sport machen“, sagt er. Die Branche habe sicher genügend Geld in Reserve, um nicht zuletzt auch die Auflagen höchst professionell zu erfüllen.Was Friedrich und auch andere viel mehr ärgert, ist die unzureichende Solidarität der Bundesligaspieler selbst. „Kleine Vereine haben echt zu kämpfen, Fitnessstudios sind immer noch geschlossen. Das ist ungerecht. Und die es finanziell am wenigsten kratzt, tun sich dann noch schwer, auf ein paar Prozente ihres Gehalts zu verzichten. Das finde ich menschlich schwach“, sagt Friedrich.
Natürlich, ergänzt der mittlerweile in Offenburg nahe der französischen Grenze lebende Vetter, könne und müsse man einigen Kickern das soziale Engagement zugutehalten. Die Existenznöte der Menschen, von denen er als Gemeinderat auch bei sich vor Ort erfährt, seien allerdings um ein Vielfaches größer.
Ruderer Schulze bringt das Meinungsbild unter den sächsischen Topathleten auf den Punkt: „Letztlich muss da eine politische Entscheidung fallen – entweder alle treiben wieder Sport oder gar keiner. Da sollte es eine einheitliche Linie geben. Ein Wiederbeginn nur im Fußball ist nicht begründbar.“
Mitarbeit: Alexander Hiller, Maik Schwert, Daniel Klein