Von Thomas Schade
Schaut man über den weitläufigen Schlosshof, so wird das Auge geblendet von den weiß-gelben Fassaden der Hubertusburg. Barocke sächsische Pracht leuchtet hier im sonnigen Altweibersommer. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließ Kurfürst August der Starke hier in Wermsdorf bei Oschatz ein riesiges Jagdschloss errichten. Preußen, Österreicher und Sachsen handelten in den Mauern 1763 den Hubertusburger Frieden aus. Er beendete den Siebenjährigen Krieg. 1872 verbüßten die Arbeiterführer August Bebel und Wilhelm Liebknecht hier zwei Jahre lang eine Festungshaft.
Hinter den historischen Fassaden des südlichen Nebenflügels erinnert kaum noch etwas an diese Zeiten. Lange, weiß getünchte Gänge verbinden die Gebäude 71 bis 79. Im Dachgeschoss des Rundbaues mit der Nummer 72 steht heute an einigen Türen „Sachgebiet AV-Medien“. Dahinter liegt das Reich von Stefan Gööck im Dämmerlicht, das Auge erholt sich hier schnell von den gleißenden Fassaden. Im Filmraum, wie der bärtige Mann mit dem Pferdeschwanz das Zimmer nennt, sind alle Fenster verhangen. Eine Vorführmaschine für 35-Millimeter-Filme dominiert den Raum. Leere Filmrollen hängen an den Wänden. Zwei Schneidetische und ein Schrank, vollgestopft mit Elektronik und Monitoren, komplettieren die Ausstattung.
Eine sehr spezielle Nische
Das Sachgebiet der audiovisuellen Medien ist mit einer Planstelle die kleine, aber feine Nische im Archivzentrum Hubertusburg, in dem derzeit 13 Mitarbeiter beschäftigt sind. Jürgen Rainer Wolf, der Direktor des Sächsischen Staatsarchives, spricht davon, dass in Wermsdorf eine moderne Dienstleistungseinrichtung entsteht, „die in dieser Form ihresgleichen sucht in der Bundesrepublik“. Acht Jahre lang wurden hier 26,5 Millionen Euro investiert und eine Zentralwerkstatt für das „Gedächtnis des Freistaates“ geschaffen. Bei einer Exkursion während des Deutschen Archivtages, der zurzeit in Dresden stattfindet, können Archivare aus ganz Deutschland sehen, was hier entstanden ist.
Stefan Gööck sitzt an einem der Schneidetische. Auf dem Bildschirm vor ihm flimmern Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Jahre 1936. „Barockstadt Dresden“ heißt der Zehn-Minuten-Streifen der Firma Boehner-Film. Er zeigt die sächsische Landeshauptstadt vor ihrer Zerstörung. Das Staatsarchiv hat den alten Kulturfilm aus privatem Besitz erworben. Stefan Gööck hat von dem wertvollen Original ein sogenanntes Mastervideo und einige Benutzerkopien angefertigt. Nun kann das historische Filmmaterial öffentlich gezeigt werden.
Als Einzelkämpfer baut Stefan Gööck im Archivzentrum Hubertusburg das bisher einzige staatliche Archiv für Audiovisuelle Medien in Mitteldeutschland auf. „Eine sehr spezielle Nische“, sagt er. Das gilt in doppelter Hinsicht. „Ich betreibe nicht gerade das Kerngeschäft des Staatsarchives, denn das sind Akten, Karten und Fotos.“ Außerdem gibt es große private Film- und Tonarchive, wie das des MDR. Gööck verwaltet einen vergleichsweise kleinen Bestand von derzeit 20000 Film- und Tondokumenten. Die Hälfte ist nach 1990 hinzugekommen, und es werden immer mehr Film- und Tonangebote.
Schon seit längerer Zeit werden solche Medien in Sachsen archiviert. 1997 entschloss sich die Archivverwaltung, ein eigenständiges Sachgebiet dafür einzurichten. Damals wechselte Stefan Gööck, von Beruf eigentlich Kultur- und Medienmanager, von der kommunalen Medienwerkstatt Leipzig zum Staatsarchiv. Sein Rüstzeug zum Sachbearbeiter im Archiv hat sich der Seiteneinsteiger selbst erarbeitet. „Mein Crashkurs war die tägliche Archivpraxis“, sagt er.
Sein Equipment, ein professionelles Videostudio, brachte er mit. Es steht in unmittelbarer Nachbarschaft seines Filmraumes. In diesem Video-/Tonstudio, wie er es nennt, liegen fast ein Dutzend Filmkassetten auf dem Boden–einer seiner jüngsten Bestände: Filme aus dem Nachlass des Dresdner Filmemachers Gottfried Stejskal, der mit dem Dresdner Film-Kollektiv in der DDR bekannt war. Auf einigen Filmdosen liegen bereits die blauen Studiokassetten, wie sie auch TV-Produzenten verwenden. Stefan Gööck fertigt für diesen neuen Bestand sogenannte Videomaster an. „Sie sind Teil der Sicherung und Erschließung von Archivgut“, sagt er. Die Originale werden später wie alle archivierten Film- und Tonträger in Spezialmagazinen lagern.
Stefan Gööck schließt eine kleine fensterlose Kammer auf. Provisorisch lagern hier seine „Schätze“ – die Nitrofilme, wie er sie nennt. Nitrozellulose wäre exakter, nur nicht Zelluloid, das sei etwas anderes. Schießbaumwolle träfe die Sache schon eher, sagt er, und macht auf die Gefahr aufmerksam, die bei seinen ältesten Filmdokumenten zu beachten ist. Auch bei dem Streifen aus dem Jahr 1912 beispielsweise, der den letzten sächsischen König bei einer Visite in Coswig zeigt. Ein Apotheker aus Meißen hat das historische Dokument zur Verfügung gestellt. Mit ein paar Dutzend anderen Filmrollen liegt es in Kühlschränken – nicht zuletzt, weil sich die alten Filme selbst entzünden können.
Die Vision einer Zentralwerkstatt für die Erhaltung von Archiv- und Bibliotheksgut entstand 1996. Damals wurde im Innenministerium ein Archivkonzept für Sachsen erarbeitet. Nur das Staatsarchiv Leipzig war nach dem Umzug 1995 ins Paunsdorfcenter modern untergebracht. Über den Baubedarf für die Standorte Chemnitz, Dresden und das Bergarchiv Freiberg konnten sich die Minister des Inneren und der Finanzen jahrelang nicht einigen. Für eine Zentralwerkstatt sah man lange keinen Bedarf. „Aber von unserem gesamten Aktenbestand von derzeit 102 laufenden Kilometern sind 23 Kilometer geschädigt“, sagt Jürgen Rainer Wolf. Sie müssten über kurz oder lang behandelt werden. Dafür sei eine zentrale Papierbehandlung am günstigsten. Erst nachdem externe Gutachter 2001 den Bedarf ermittelt hatten, kam Bewegung in den sächsischen Archivbau.
Der Klotz am Bein
Zu jener Zeit soll Finanzminister Georg Milbradt Schloss Hubertusburg als Archivstandort ins Gespräch gebracht haben. Das größte Schloss Sachsens hing ihm wie ein Klotz am Bein. Seit 1990 musste der Freistaat 20Millionen Euro investieren, nur um die riesige Anlage zu erhalten. Genutzt wurde sie jahrelang nicht. In seiner ersten Sitzung des Jahres 2002 gab das Kabinett schließlich grünes Licht für ein Archiv-Bauprogramm von insgesamt 60Millionen Euro, zu dem auch der laufende Umbau des Dresdner Hauptstaatsarchives gehört.
Aber noch ehe der Grundstein in Wermsdorf gelegt werden konnte, stoppte der Sächsische Rechnungshof das Vorhaben. Er wollte zwei Drittel der Bausumme sparen. „Archivgut sollte grundsätzlich verfilmt oder digitalisiert gespeichert und nur noch in Ausnahmefällen stofflich aufbewahrt werden“, hieß es im Jahresbericht 2003. Eine Vorstellung, die jeder Archivar als Supergau bezeichnet. „Wir konnten alle Beteiligten davon überzeugen, dass auf diesem Wege ein beträchtlicher Teil sächsischen Kulturgutes verloren gegangen wäre“, sagt Direktor Wolf, ohne die brisante Debatte jener Tage zu kommentieren.
Mittlerweile arbeitet die Zentralwerkstatt, nach mehrjähriger Bauzeit, in der sich die Projektanten der Firma IPRO und die Ingenieure des Staatsbauunternehmens SIB stets in einem Spannungsfeld bewegten: Sie mussten das historische Erscheinungsbild des Schlosses erhalten und innen moderne Werkstätten und klimatechnisch anspruchsvolle Spezialmagazine schaffen. 1500 Kubikmeter altes Mauerwerk und 600 Kubikmeter Altholz mussten entfernt werden. Im alten Gemäuer entstand ein neues Haus aus Stahl und Beton. Jürgen Rainer Wolf ist mit dem Ergebnis zufrieden. So ein Projekt sei stets ein Kompromiss. Ein Drittel aller Flächen seien Flure, Treppen und Gänge. Damit müsse man leben. Dennoch seien optimale Bedingungen für die Restaurierung und Konservierung entstanden.
Kopien für den Stollen
Derzeit kommt vor allem Archivgut aus dem eingestürzten Kölner Stadtarchiv an. Seit Wochen wird ein Teil davon in Wermsdorf bearbeitet. Neben der Möglichkeit zur Gefriertrockung steht auch eine Papiernassanlage zur Verfügung. Von Säurefraß gefährdete Archivalien werden darin gewaschen und entsäuert. In einer zweiten Abteilung findet die Verfilmung statt. Neue Kameras und Verfilmungsgeräte aus den anderen Archiven sind hier konzentriert. Neben Nutzerkopien werden im Auftrag des Bundes die wertvollsten Archivalien sicherheitskopiert, für den Barbarastollen im Schwarzwald. Dort lagert der Bund seit 1975 Kopien historisch bedeutsamer Dokumente ein – geschützt vor Katastrophen und für die Ewigkeit.
Nur Stefan Gööck muss sich gedulden. Er kann sein Sondermagazin erst im nächsten Frühjahr nutzen. Denn nachdem das Archivzentrum im Juni 2009 eingeweiht worden war, blieb in den ersten warmen Sommertagen das Klima in den Räumen nicht konstant. Der Freistaat rüstet nun nach. „Wir brauchen je nach Archivgut in einzelnen Räumen Temperaturen zwischen 15 und minus sechs Grad Celsius“, sagt Gööck. Nur in der Kälte könnten alte Nitrofilme sicher und nachhaltig archiviert werden. Wie in jedem Archiv schielt man eben auch in Wermsdorf nach der Ewigkeit und hat dabei auch das Hauptschloss im Blick – wo ein neues Depot entstehen könnte.