Von Ralph Schermann
Am 8. März 2000 geschahen seltsame Dinge auf dem Görlitzer Bahnhof. Der wie so oft verspätete Frühzug aus Polen wurde auf ein Abstellgleis geschoben und die Reisenden zu einem Ersatzzug begleitet. Dann nahmen Kai Kästner und seine Beamten vom Zollkommissariat den D452 auseinander.
Es war die erste große Görlitzer Zollaktion im polnisch-deutschen Zugverkehr. Es war aber auch die letzte spektakuläre Aktion einer über Jahrzehnte andauernden Schienen-Schmuggel-Hochburg.
Zollbestimmungen ohne Wert
1957 war der Reiseverkehr über den reparierten Görlitzer Viadukt wieder aufgenommen worden. Vier Schnellzüge fuhren täglich über die Brücke, darunter die Tagesverbindung Leipzig–Warschau. Ende der 60er Jahre kam noch ein Wochenendangebot Dresden–Riesengebirge für Ausflügler nach Einholen eines Visums hinzu. In den 70er Jahren nutzten deutsche Touristen die Bahn für das Mitbringen unerlaubter Dinge. Schon damals waren Lizenz-Zigaretten der Renner, aber auch auf Flohmärkten gehandelte Tonträger und Westzeitungen kamen so in die DDR.
In den 80er Jahren blühte der Schmuggel dann retour. Schuld daran waren rund 21000 polnische Staatsbürger, die offiziell in der DDR arbeiteten. Da Ex- und Import zwischen beiden Staaten weniger begehrte Waren zur Verteilung brachten, kümmerten sich pendelnde Polen selbst. Zollbestimmungen wurden dabei generell missachtet, und bei den Heimfahrtagen herrschte Chaos in den über Dresden, Bautzen und Löbau nach Görlitz führenden Zügen. Selbst für den persönlichen Bedarf ausführbare Waren reichten nicht mehr, fast jeder polnische Kollege belieferte Verwandte und Bekannte. Das Geld dafür erzielte man wiederum aus dem Verkauf polnischer Waren in der DDR, bekannt ist zum Beispiel ein florierender Schwarzmarkt für Leder- und Strickwaren.
Kein Schaffner kam durch
Am schlimmsten gestalteten sich Fahrten mit dem D 487 (Leipzig– Görlitz–Warschau). In Leipzig wurden schon bei Einfahrt der Waggons auf den Bahnsteig alle Abteile regelrecht gestürmt. 1985 wurde ein Pole getötet, als er bei der Wagenbereitstellung auf die Gleise fiel. Die Gänge waren verstellt mit Kühlschränken und Waschmaschinen, Platzreservierungen waren nicht durchsetzbar, der Weg zur Toilette aussichtslos. Weil Schaffner nicht mehr durchkamen, fuhren viele Polen ohne Fahrschein. Kam doch mal ein Kontrolleur, verstand niemand deutsch, wusste keiner das Gepäck zuzuordnen. Transportiert wurden Backwunder, Tapeten, Schlafsäcke, Mopedreifen, Kinderspielzeug, Fit, Akkordeons und Klappfahrräder. Packungen mit 300 Tüten Puddingspulver waren keine Seltenheit. Und weil Polen mit Beuteln voll Orangen gesichtet wurden, ging in Görlitz sogar mal eine Gruppe Hausfrauen mit Regenschirmen auf die Reisenden nach Warschau los.
1985 gaben die Reichsbahner am Freitagszug rund 2000 belehrende Handzettel aus. Die Transportpolizei wurde verstärkt. Gegen jeweils rund 700 polnische Reisende kam sie dennoch nicht an. Beantragt wurde, den Zug für den Binnenverkehr zu sperren. Dafür wurde ein Entlastungszug Leipzig–Wroclaw (Breslau)–Katowice (Kattowitz) zusätzlich aufgenommen, auch ein Zusatzzug von Zwickau nach Warschau. Die Zeitung „Rzeczpospolita“ beschrieb die Zustände in einer offenen Reportage, DDR-Ministerpräsident Willi Stoph forderte von Verkehrsminister Otto Arndt eine Lösung. Erschwerend kam hinzu, dass der D 487 in der DDR zwar mit 14 Wagen fuhr, nach Görlitz aber die polnische Staatsbahn nur zwölf Wagen zuließ. In dem nun im Görlitzer Bahnhof stets einsetzenden Durcheinander gab es immer wieder Freitage, an denen der Zoll entnervt auf Kontrollen verzichtete.
Uhren hin, Schokolade her
Für den Montagszug aus Polen in die DDR sind ähnliche Geschichten verbürgt. Die Reisenden waren mit Werkzeug bewaffnet, um unter Sitze, hinter Lehnen, neben Dachklappen zu gelangen. Dort versteckten sie Anoraks, Uhren, Gürtel, Schmuck. Eine Schmugglerin gab zu: „Wir verkaufen das in Leipzig, dafür nehmen wir dann 25000 Schokoladentafeln zurück...“ Die Einreise gestaltete sich freilich ob des fehlenden sperrigen Gepäcks übersichtlicher für den Zoll, der auch während der Fahrt zwischen Görlitz und Bautzen kontrollierte.
Als Ende der 80er Jahre polnische Bürger direkt nach Westberlin reisen durften, ging es plötzlich ruhiger zu. Nun nutzten die Nachbarn die nördlicher über die Grenze führenden Züge über den Berliner Ostbahnhof. Und nach der Wende waren es bekanntlich deutsche Fahrzeugtouristen, die in Größenordnungen die Straßen zum Grenzübergang in Görlitz blockierten. Und was für zollrechtliche Bestimmungen da galten, hat zunächst auch niemanden interessiert.