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Schritt für Schritt ins Leben zurück

Dank einer Operation ist Anja Frost nun besser zu Fuß. Damit gibt sie sich nach ihrem Schlaganfall aber nicht zufrieden.

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© steffen füssel, steffen fuessel

Von Nadja Laske

Auf einen Schlag hat sich für Anja Frost die Welt verengt. Nun holt sie sich auf Knopfdruck ein Stück Weite zurück. Schritt für Schritt, mit einem kleinen Gerät, das ihr Bein gehorchen und die junge Frau besser laufen lässt. Während der Geburt ihres ersten Sohnes hatte die damals 37-Jährige einen Schlaganfall erlitten. Und während die Ärzte den kleinen Timon umsorgten, musste das Gehirn der Mutter gefährliche Minuten lang auf Hilfe warten. Vier Wochen lang blieb Anja Frost ohne Bewusstsein und erwachte schließlich in einer Rehaklinik – ohne sprechen und sich bewegen zu können. Gelähmte Lebenslust.

Als junge Lehrerin und Mutter fing für Anja Frost das Leben gerade an, als sie einen Schlaganfall erlitt. Der Sächsischen Zeitung erzählte sie erstmals im Oktober von ihrem schweren Weg.
Als junge Lehrerin und Mutter fing für Anja Frost das Leben gerade an, als sie einen Schlaganfall erlitt. Der Sächsischen Zeitung erzählte sie erstmals im Oktober von ihrem schweren Weg.

Mit Schwung schiebt Timon sechs Jahre später die schwere Tür zum Brauhaus am Waldschlösschen auf, schnauft und ächzt und grinst verschmitzt. Seine Mutter manövriert geschickt den Kinderwagen ins Restaurant. Im Buggy sitzt Varik, fast noch ein Baby. Er schläft und stört sich nicht am Geplapper seines großen Bruders. Der gehört schon zur großen Gruppe im Kindergarten, einer, der bald den Zuckertütenbaum plündern darf.

Den Rollstuhl verweigert

Doch bei Apfelschorle und Laugenbrezel ist nicht der Schulanfang, sondern die Schwimmstunde Thema. Von da kommt Anja Frost mit ihren beiden Jungs gerade. Timon ist dem Seepferdchen heute wieder ein paar Schwimmstöße näher gekommen. Seine Mutter hat ihn ins Nordbad begleitet. „Eigentlich geht er mit der Kindergartengruppe hin, doch heute ist Streik“, sagt sie. Die Worte stocken, manchmal sucht sie lange nach einem Begriff. Die Krankheit verschlägt ihr die Sprache. Mit der linken Hand hat sie den Wagen um Tische und Stuhlbeine herumgelenkt, ist auf eine Tafel in ruhiger Ecke zugesteuert. Womit andere Mütter beide Hände voll zu tun haben, das schafft sie mit nur einer: Jacke ablegen und Kleinkind aus dem Fußsack klauben, es vom Gurt befreien und heraus auf ihren Schoß heben, ihm die Nuckelflasche hinhalten, die kleine Rotznase putzen und eine heruntergefallene Ringelsocke mit Geschick wieder über den nackten zappelnden Fuß ziehen.

Der rechte Arm gehorcht Anja Frosts Gehirn nicht mehr. Leicht gekrümmt hält sie ihn vor dem Bauch. Nur mit der Linken öffnet die Mutter ein Breigläschen, indem sie es mit den Beinen festhält und die Kappe dreht, bis sie aufploppt. „Das geht schon alles“, sagt sie leichthin. Dabei war ihr Weg bis dahin unendlich schwer. Den Rollstuhl hat sie entschieden abgelehnt, als ihre Reha-Zeit in Kreischa endete. Nur mit Krücke wollte sie zurechtkommen und tat es – trotz der vielen Treppen bis in ihre Wohnung im letzten Stock des Neubaus ohne Lift. Schwer und schleppend blieb ihr Gang bis zum vergangenen Dezember. Schon lange vorher hatte Anja Frost auf eine Unterstützung gehofft und bei ihrer Krankenversicherung einen Antrag gestellt. Doch die wollte die Kosten für einen Apparat, von dem sich die Patientin so viel versprach, nicht übernehmen: ein Stimulator für einen bestimmten Nerv, der das Heben des Fußes steuert und den Betroffenen deutlich leichter laufen lässt. „Ich habe zwei Kinder, sie werden immer mobiler, ich brauche das Gerät dringend“, sagte sie damals und legte zusammen mit ihrem Mann Beschwerde ein. Er arbeitet von morgens bis abends für seine Familie und kann seiner Frau im Alltag nicht viele Wege abnehmen. Nachdem die Sächsische Zeitung zum ersten Mal über Anja Frost berichtet hatte, bot ihr das Uniklinikum den Fußheber zur Probe an. Vier Wochen lang durfte sie testen, ob sie damit besser beweglich ist und fühlte sich einen Monat lang sehr erleichtert. Das Umschnallen und Befestigen am Bein jedoch war mühsam. Aber kurz nach dem Testlauf erhielt sie eine große Chance: Ein Spezialist würde ihr einen Stimulator ins Bein implantieren – eine neue Methode, in der das Universitätsklinikum weltweit führend ist, wie der behandelnde Doktor Daniel Martin sagt.

Seit dreieinhalb Monaten trägt Anja Frost die Elektrode des sogenannten Nervus peronaeus-Stimulator unter der Haut und am Gürtel ein kleines Bedienungsgerät. Feinste Stromstöße aktivieren Nerven und Muskeln, sodass Anja ihren rechten Fuß nun hoch genug anheben kann, um auch das Bein besser zu bewegen. Nur kurze Zeit brauchte Anja, um sich daran zu gewöhnen, so sehr, dass sie sich inzwischen bleischwer fühlt, wenn der Knopf mal nicht auf „on“ steht.

Per Liegerad flott voran

Timon hat die zweite Brezel mit Genuss zerkrümelt und aufgegessen, mit viel Apfelschorle nachgespült und munter den Tisch unterhalten. Jetzt freut er sich auf den Spielplatz, wo der freie Nachmittag ausklingen soll und auf Papa, der abends von der Arbeit kommt. Auch seine Mutter denkt an ihre Pläne. Sie wird ihre Therapien wieder aufnehmen, in der warmen Jahreszeit mit dem Liegerad unterwegs sein und den gemeinsamen Garten fit für den Sommer machen. Sie sehnt sich nach der Familienzeit im Ostseeurlaub und nach Normalität im Alltag. Und sie braucht Kraft für zwei, um immer noch besser allein zurechtzukommen.