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Schusstraining mit der Kalaschnikow

Fußball-Profi Kevin Kuranyi lebt bei Dynamo Moskau in einer anderen Welt – und erlebt neue Trainingsmethoden.

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© Jörg Röhrig

Von Jörg Röhrig

Novogorsk liegt 20 Kilometer vor den Toren der Mega-City Moskau. Die Taxifahrt gen Norden dauert an diesem frühen Dienstagmorgen keine 30 Minuten. Für die Rückfahrt am Nachmittag sollten wir jedoch besser drei Stunden einplanen. Uns erwartet dann der tägliche Stau-Wahnsinn, gibt Kevin Kuranyi zu bedenken.

Dicke Limousinen parken vor der Eingangshalle. Privatsphäre wird bei Dynamo hochgeschätzt. Jeder Spieler hat daher seinen ganz persönlichen Ruheraum.
Dicke Limousinen parken vor der Eingangshalle. Privatsphäre wird bei Dynamo hochgeschätzt. Jeder Spieler hat daher seinen ganz persönlichen Ruheraum. © Jörg Röhrig
Nur gucken, nicht betreten. Nur das D am eisernen Tor verrät, was sich hinter der Steinmauer verbirgt. Das Trainingsgelände von Dynamo wird streng bewacht.
Nur gucken, nicht betreten. Nur das D am eisernen Tor verrät, was sich hinter der Steinmauer verbirgt. Das Trainingsgelände von Dynamo wird streng bewacht. © Jörg Röhrig
Kevin Kuranyi lebt in einer anderen Welt. Das Geld gab den Ausschlag.
Kevin Kuranyi lebt in einer anderen Welt. Das Geld gab den Ausschlag. © Jörg Röhrig

Novogorsk ist so etwas wie ein anderer Planet. Nichts zu spüren von der Enge einer 15-Millionen-Metropole. Viel Platz, viel Grün und mittendrin das Trainingsgelände von Dynamo Moskau: 2008 eröffnet, hermetisch abgeschirmt, von der Straße aus gar nicht einsehbar. Eine ewig lange, hohe Steinmauer schützt vor neugierigen Blicken. Doch wir haben einen Termin – mit Kevin Kuranyi. Vier griesgrämige Wachleute entscheiden, uns Einfahrt zu gewähren. Die Abstimmung unter ihnen erfolgt wortlos. Nachdem sich die Schleuse geöffnet hat, sind wir sprachlos.

Das Objekt ist endlose sechs Hektar groß und unfassbar modern. Kuranyi benennt die Dimensionen konkreter: „Das hier ist ungefähr dreimal so groß wie das Trainingsgelände auf Schalke.“ Drei Spielfelder, zwei Schwimmhallen, Fitnessräume, mehrere Saunen, medizinische Bereiche und eine Bibliothek. Riesige Gänge vernetzen das Objekt. Alle zehn Minuten fegt ein Reinigungsgeschwader über die permanent blitzblanken Flure. Rund 30 Millionen Euro soll das Gesamtprojekt Dynamo Moskau kosten, inklusive Spielergehälter – pro Monat. Kein Problem für einen Klub, den die mächtige VTB-Bank unterstützt.

Sechs Millionen Euro pro Saison

Kuranyi führt uns in seinen Ruheraum. Jeder Spieler hat einen eigenen. Das Rückzugsgebiet des Deutschen ist sein persönliches Stück Heimat in der Fremde. Die Playstation und deutsche Zeitungen – mehr braucht er nicht. Vor vier Jahren hatte sein Manager Roger Wittmann zu ihm gesagt: „Kevin, das hier kannst du nicht ablehnen.“ Und noch ehe sich der Angreifer anders entscheiden konnte, hatte Wittmann einen Drei-Jahres-Vertrag für seinen Klienten ausgehandelt. Moskau stand zwar gar nicht auf der Wunschliste, aber „das Geld hat entschieden. Alles andere zu erzählen, wäre heuchlerisch“, erklärt der Ex-Nationalspieler, der im Oktober 2008 für immer aus der Auswahl verbannt worden ist. Knapp sechs Millionen Euro überweist Dynamo pro Jahr an den Weltenbummler. Geboren in Brasilien, aufgewachsen in Panama, in Deutschland zum Fußballer geworden. Ein Mann, drei Pässe und einhundertneunzig Zentimeter Multi-Kulti. Insofern passt auch Moskau gut.

Die Eingewöhnung im neuen Kulturkreis fiel dem 32-Jährigen nicht sonderlich schwer. Sein Motto: „Nach Gott kommt meine Familie.“ Alle kamen sie mit: Ehefrau Viktoria sowie die Kinder Carlo und Vivien. Auch die Wohnanlage der Familie, fünf Minuten vom Trainingsgelände entfernt, ist streng bewacht. „Klar, man fühlt sich schon sicher, auch wenn es etwas von einem goldenen Käfig hat“, meint Kuranyi.

Warten auf Bundesliga-Angebote

Fahrten in die Stadt sind eher selten. Zu dick der Verkehr. „In letzter Zeit häufen sich die Fragen vor allem meiner Kinder: Papa, wann ziehen wir endlich wieder nach Deutschland?“, erzählt Kuranyi. Der Vertrag des Profis läuft noch ein Jahr bis Sommer 2015. Gäbe es eine lukrative Offerte aus Deutschland, ist Kuranyi eher weg.

In der Winterpause 2013/2014 war es fast so weit. Ein Wechsel in die Bundesliga scheiterte im letzten Moment. „Natürlich macht es immer noch Spaß, hier zu spielen, aber das Heimweh wird auch immer größer“, beschreibt Kuranyi offensiv seine aktuellen Gefühle. „Die Liga hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt“, meint er.

Das sportliche Niveau sei deutlich gestiegen, die Organisation auch wesentlich besser geworden. Die Top-Klubs könnten in der Bundesliga gut mithalten. „Wir haben uns als Fünfter für die Europa-Liga qualifiziert, nächste Saison wollen wir endlich die Champions League schaffen“, betont Kuranyi. Das soll unter der sportlichen Leitung von Stanislaw Tschertschessow gelingen. Der Ex-Torwart von Dynamo Dresden hat den Klub nach der Entlassung des Rumänen Dan Petrescu im April übernommen.

Doch nicht nur Dynamo Moskau investiert. Russland steckt Milliarden in den Fußball. In vier Jahren wird hier die WM stattfinden. Das Fest soll gigantisch werden so wie Olympia in Sotschi.

Urlaub zu Hause in Brasilien

Die Mentalität der Russen ist für Kuranyi kein Geheimcode mehr. „Wenn man sich öffnet, kann man auch irgendwann deren Herzen erobern“, sagt er, „aber etwas verrückt sind sie schon, positiv natürlich.“ Die Episode, die er zum Schluss erzählt, ist legendär. Kuranyi war neu im Klub, als der Präsident auf dem Gelände erschien und die versammelte Mannschaft zum Schusstraining verdonnerte. Noch ehe Kuranyi seine Füße in den Töppen hatte, merkte er, dass außer ihm keiner mehr in der Kabine saß. Die Truppe stiefelte zum Bus. Es ging aber auf eine andere Art Schießplatz. Bei der Übungseinheit warteten keine Bälle auf die Fußballer, sondern Kalaschnikows. Dauerfeuer einmal anders.

Derzeit ist Kuranyi mit seiner Familie in seiner brasilianischen Heimat. Urlaub in Petropolis, nicht weit vom WM-Quartier der Brasilianer entfernt. Das Turnier selbst wird er nicht vor Ort verfolgen. Am 10. Juni bittet Trainer Tschertschessow zur ersten Trainingseinheit. Treffpunkt Novogorsk.