Von Ulrike Keller
Nichts mit Tracht und steifer Haube. Schwester Esther Selle trägt Kostüm. „Die Farben Blau und Weiß haben wir beibehalten“, sagt die aufgeschlossene Oberin. „Aber wir sind umgestiegen auf Kostüm oder Rock mit Weste, in den Kindertagesstätten auch auf Hose.“ Die Lockerung führte sie 2003 ein. Schwestern hatten sie um eine im Arbeitsalltag praktischere Variante gebeten. „Keiner musste, jeder durfte“, erzählt sie. 15 der damals 60 Schwestern wechselten sofort die Kleiderordnung. Inzwischen gibt es nur noch wenige in alter Tracht. Im Hedwig-Fröhlich-Haus, dem Radebeuler Altenpflegeheim der Diakonissenanstalt Dresden, ist sie kaum mehr anzutreffen.

Auf dem Weg durch den Park ruft ein schriller Handyton aus der ledernen Aktentasche von Schwester Esther Selle. „Sonst höre ich es nicht“, sagt die 53-Jährige unprätentiös. Sie stellt die Tasche ab und setzt sich auf eine Bank. Zu dem weiß eingetrockneten Fleck im Holz meint sie locker: „Oh, hier war ein Vogel zu Gast.“
Bewohnerin Edeltraud Kolakowsky, 82, hat gerade Besuch von ihrer Tochter. Rosmarie Nicolaus schiebt ihre Mutter zu einer kleinen Spazierfahrt durchs Grüne. „Eine Cafeteria oder ein kleines Lädchen wären hier schön“, spricht sie die Oberin an. „So etwas vermisse ich hier.“ Schwester Selle ist auch Geschäftsführerin des Hedwig-Fröhlich-Hauses. Sie hört interessiert zu. „Aber für 74 Bewohner rentieren sich solche Sachen wie ein Café oder Laden nicht“, sagt sie ruhig. Für die Wiese gleich nebenan liege ein Bauantrag für Betreutes Wohnen in der Schublade. Wenn es das gibt, vielleicht in zehn Jahren, wird man ganz sicher wieder darüber nachdenken, verspricht sie.
Spannungen zwischen dem religiösen Amt der Oberin und dem weltlichen Job als Managerin empfindet sie nicht. „Das christliche Profil ist mindestens genauso wichtig wie die betriebswirtschaftliche Führung“, betont sie. Wenn etwa Einsparungen zu treffen sind, überlegt sie gemeinsam mit den Mitarbeitern, wo es sich für die Bewohner am wenigsten auswirkt.
Zu ihren ersten großen Amtshandlungen als Oberin gehörte vor 13 Jahren die Einweihung des Hedwig-Fröhlich-Hauses, komplett saniert und baulich erweitert mit 54 Einzel- und zehn Doppelzimmern. Erst seitdem wurde es auch für männliche Bewohner geöffnet. Über ein Jahrhundert war es Mädchen und Frauen vorbehalten.
Gegründet wurde es vor 150 Jahren als Magdalenenasyl der Diakonissenanstalt Dresden. Es zählte zu den ersten Einrichtungen Deutschlands für sogenannte gefallene Mädchen. Familien, die mit ihren Töchtern nicht zurecht kamen, schickten sie hierher. Und auch asozial lebende junge Frauen wurden in dem Haus aufgenommen. „Sie wurden in Hauswirtschaft ausgebildet und fit gemacht, um als Haushaltshilfe oder Dienstmädchen in eine Familie vermittelt zu werden“, erzählt Schwester Esther Selle. Fertigkeiten aneignen konnten sie sich in der Bäckerei, Wäscherei, Feldwirtschaft und Tierhaltung.
Unter den Nationalsozialisten ereilte die Einrichtung das Los aller christlichen Ausbildungsstätten: Sie wurde 1940 geschlossen. Im Zweiten Weltkrieg diente sie als Lazarett. Zu DDR-Zeiten wurde das Hedwig-Fröhlich-Haus dann als Alterssitz und Pflegeheim ausschließlich für Diakonissen im Ruhestand genutzt.
Benannt ist es nach der Gattin des ersten Pfarrers, die die Schwestern anlernte, und nach deren Vorbild 1884 das Amt der Oberin geschaffen wurde. Zusammen leiteten Pfarrer und Oberin die Einrichtung. Seit Ende der 90er-Jahre gehört noch ein Verwaltungsdirektor zum Führungstrio.
Als Schwester Esther Selle 1980 im Dresdner Diakonissenkrankenhaus ihre Ausbildung zur Krankenschwester begann, hatte sie noch keinerlei Ambitionen, jemals Diakonisse zu werden. Das evangelische Pendant zur katholischen Nonne darf nicht heiraten, lediglich ein Taschengeld bekommen und muss bereit sein, in jenen Bereichen der Einrichtung zu arbeiten, in denen sie gebraucht wird.
Doch Mitte der 80er-Jahre, noch bevor sie ein berufsbegleitendes Studium zur Medizinpädagogik absolvierte, wandelte sich ihre Sicht. „Wenn ich eine Familie gegründet hätte, hätte sich Gott bestimmt auch nicht aufgeregt“, sagt die Dresdnerin lachend. „Aber ich sehe es ein bisschen als Berufung.“ Einige, die mit ihr Mitglied in der Schwesternschaft wurden, traten schon in der Probezeit wieder aus. Schwester Esther Selle wurde 1994 eingesegnet. Als eine der Letzten seitdem. 39 Diakonissen leben aktuell in der Diakonissenanstalt Dresden, 35 von ihnen sind über 70 Jahre. Jede hat eine Einraumwohnung, „mit Balkon“, erzählt sie begeistert. Der gemeinsame Tagesablauf sieht Morgenandacht, Mittagsgebet, Abendandacht und Abendessen vor. „Aber das ist kein Gesetz“, betont sie.
Schwester Esther Selle spricht offen darüber, dass Diakonissen aussterben. Als Oberin suchte sie deshalb eine Lösung, die die Mitgliedschaft nicht mehr an der Lebensform festmacht, sondern an der diakonischen Fortbildung. 2007 wurde die Diakonische Gemeinschaft gegründet, bestehend aus Mitarbeitern des Hauses sowie aus der Gruppe der Diakonissen. Zurzeit umfasst die Gemeinschaft 140 Mitglieder überwiegend aus dem Großraum Dresden.
Erkennbar sind die Mitglieder an der Halskette. „Und natürlich am Verhalten“, ergänzt Schwester Esther Selle. Im Hedwig-Fröhlich-Haus ist sie die einzige Diakonisse. Drei Schwestern der 40 Mitarbeiter gehören der Diakonischen Gemeinschaft an. „Damit geht es zumindest weiter“, sagt sie erleichtert, „wenn auch moderner“.