Von Sebastian Beutler
Ein schmaler Ordner liegt vor Horst Schieber auf dem Tisch. Kopien von Unterlagen, Gerichtsurteilen sowie Ausgaben der Phänomen-Betriebszeitung „Im Scheinwerferlicht“ füllen ihn. Obenauf ist eine kleine Karteikarte geheftet, sechs Namen stehen drauf: Manfred Beckert, Ernst Golbs, Siegfried Marx, Erich Naß, Martin John und als letzter sein eigener. Das Verzeichnis listet jene Männer auf, die wegen des Streiks im Phänomen-Werk verurteilt wurden. Hinter den Namen steht das Strafmaß: Beckert und Golbs zwei Jahre, Marx fünf, Naß vier, John ein Jahr und sechs Monate, Schieber neun Monate.
Der heute 75-jährige Schieber hat diese Mappe gehütet, lange Jahre selbst seiner Tochter nichts erzählt, Freunden und Bekannten sowieso nicht, noch heute will er nicht fotografiert werden. Es ist ein Familiengeheimnis, wie der damals 25-jährige Betriebsgewerkschaftschef von Phänomen in den Volksaufstand geriet. Ein Anführer war er nicht. Trotzdem wurde er verhaftet, aus der Partei geworfen, verurteilt und musste sich nach seiner Freilassung Ende Juni 1954 im Kraftwerk Hirschfelde wieder hocharbeiten – dabei stets von der Staatssicherheit bespitzelt, die bis zum Untergang der DDR von der Angst vor neuen Unruhen umtrieben wurde.
Trotz der ungerechten Verurteilung, die nach der Wende kassiert wurde, hat sich Schieber einen unverstellten Blick auf den Tag erhal-ten: „Die Menschen sehnten sich nach Freiheit.“ Deswegen fielen die Nachrichten vom Rias aus Berlin auf fruchtbaren Boden auch in Zittau. Am Morgen des 17. Juni kamen Arbeiter zu Schieber und verlangten eine Belegschaftsversammlung, es waren jene, die später verhaftet und vor dem Dresdner Bezirksgericht abgeurteilt wurden. Schieber leitete die Versammlung. Die Arbeiter schlossen sich den Forderungen an, die überall damals in der DDR geäußert wurden: Normsenkung, bessere Versorgung, freie Wahlen. „Die Forderungen waren vernünftig“, sagt Schieber, der aber auch erklärt: „Zusammen mit Langer war ich mir einig, dass die Werktore zubleiben und keine Demonstration ermöglicht wird. Wir wollten doch kein Blutvergießen.“ Noch während der Belegschaftsversammlung erfuhr Schieber, dass ein sowjetischer Panzer – vermutlich aus der Panzerwerkstatt Ostritz – am Bahnhof aufgefahren sei. Tatsächlich gelang es Schieber, die Arbeiter von der Demo abzuhalten. Der Streik scheiterte, ehe er so recht angefangen hatte. Noch in der Nacht flohen die ersten in den Westen – Mitarbeiter aus der Einfahrabteilung, die Transparente gemalt hatten. Andere wurden verhaftet. Schieber erst im September. Ihm wird zur Last gelegt, dass er den Betriebsleiter nicht als ersten sprechen ließ. Das war der DDR neun Monate Gefängnis wert. Auf ein Wort/S.16