Von Susanne Plecher
Auf dem Beratungstisch in Manfred Richters Schulleiterzimmer liegt eine braune Kunstledermappe. In ihr befindet sich vielleicht eine vorbereitete Rede, auf ihr ein exakt ausgerichteter Taschenrechner. Das Modell, ein SR1 aus dem VEB Mikroelektronik, ist allen, die in der DDR die Schulbank drückten, vertraut. „Den hab‘ ich immer noch. Er hat mir all die Jahre gute Dienste geleistet“, sagt Manfred Richter und lächelt. 43 Jahre hat er Mathematik, Deutsch, Sport unterrichtet. Auch Sachunterricht, der früher Heimatkunde hieß. Heute ist sein letzter Schultag.
Wie viele Kinder er in seiner langen Dienstzeit begleitet hat, lässt sich nicht ohne längeres Grübeln sagen. „Aber ich habe aktuell drei Enkel von ehemaligen Schülern. Wenn man das als Lehrer erreicht hat, darf man ruhig aufhören.“ Viele Kollegen wird es nicht geben, die das von sich behaupten können. Auch bei der Anzahl der Einsatzorte dürfte er eher als Ausnahme gelten. In seinem ganzen Arbeitsleben war er nur an zwei Schulen tätig. Abordnungen, wie sie für andere Lehrer auf der Tagesordnung stehen, hat es für ihn nicht gegeben, weil er zunächst stellvertretender Schulleiter, später ganz der Boss war.
Hochdruck ist gut für Konzentration
43 Jahre, zwei politische Systeme. Vieles hat sich verändert, aber im Kern sind die Dinge gleich geblieben. Dass ein guter Lehrer Kinder lieben muss und mit ihnen arbeiten will, zum Beispiel. „Sonst wird es nichts“, so Richters Fazit. Oder, dass jeder Tag andere Herausforderungen bringt. Das geht schon beim Wetter los. Tiefdruckgebiete, so die Erfahrung des scheidenden Schulleiters, machen die Kinder quirlig und die Schule zu einem Ameisenhaufen.
Hochdruckgebiete sind gut für Konzentration und Arbeitswillen der Schüler. Ihnen Forderungen zu stellen, hat sich Richter aus DDR-Zeiten beibehalten, genauso wie den Taschenrechner. Anders ist, dass die Kinder durch Reisen und Medien selbstbewusster, die Eltern kritischer sind als früher. „Heutzutage ist der Lehrer ein normaler Arbeitnehmer, der seine Arbeit macht. Die Kinder gehen ohne Hemmungen mit ihm um“, sagt er. Zu ehrfurchtsvollen Salzsäulen erstarrt niemand mehr.
Manfred Richter meckert nicht über das aktuelle Bildungssystem. Aber er macht sich so seine Gedanken. Zum Beispiel darüber, wie schwer es Kindern gemacht wird, die mit ihren Eltern in ein anderes Bundesland umziehen. Schule ist Ländersache. Ein jedes legt eigene Maßstäbe, Methoden, Materialien, Prüfungsinhalte fest. „Das ist schon eine große Umstellung für die Kinder“, sagt Richter, und man spürt, dass ihm das missfällt. Deutlicher wird er, wenn es um die Zukunft seines eigenen Hauses geht. Er hätte gerne ein gut bestelltes Feld hinterlassen. Aber sieben der insgesamt 13 Lehrer sind älter als 60 Jahre. Neben ihm scheidet eine weitere Lehrerin altersbedingt aus dem Schuldienst aus, eine wird versetzt, eine geht in den Mutterschutz. „Im nächsten Schuljahr gibt es hier einen großen Umbruch“, fasst er kurz, was ihm viele Nerven gekostet hat. Den reibungslosen Betrieb für die Zeit nach den Sommerferien zu organisieren, liegt schließlich noch in seiner Verantwortung.
Immerhin kommen zwei neue Kolleginnen ins Team. Eine von ihnen stammt aus Großenhain und kehrt nach einigen Jahren in der Schweiz in die Heimat zurück. Den Platz, den Richter selbst räumt, will jedoch niemand einnehmen. Dreimal ist seine Stelle in der Bildungsagentur ausgeschrieben worden. Deutschlandweit. Der einzige Interessent, er stammte aus Hessen, hat seine Bewerbung erst kürzlich zurück gezogen. Nun wird Friedrich Brunnert, der die Grundschule in Kalkreuth leitet, die Aufgabe mit übernehmen. Ein Leiter für zwei Schulen? „So ungewöhnlich ist das gar nicht“, sagt Richter ernst. „Die mittlere Lehrergeneration der 35 bis 45-Jährigen fehlt uns. Und die Jungen wollen lieber in die Großstadt gehen. Großenhain ist für sie schon Land.“
Hätte er eine Idee, wie sich die Attraktivität der Kleinstadt- und Landschulen für Berufseinsteiger erhöhen ließe? „Ja: Landlehrerzulage“, sagt er knapp. Auch die hat es zu DDR-Zeiten schon gegeben.
Nicht mehr Teil der Öffentlichkeit
Bis Ende Juli muss sich Manfred Richter über solche Dinge noch den Kopf zerbrechen. Dann räumt er seinen Schreibtisch endgültig, packt die Mappe und den Taschenrechner ein. „Dann bin ich nicht mehr Teil des öffentlichen Lebens.“ Was er dann macht? Zeit mit seiner Ehefrau genießen, wandern gehen, schwimmen. Renovieren will er, ganz ohne Aufgabe geht es auch im Ruhestand nicht.