"Pflege ist mehr als waschen und füttern"

Romy Hänsch flitzt den Gang entlang und schiebt mit Schwung den Rollstuhl um die Ecke. Die alte Frau, die darin sitzt, lacht vergnügt. Sie ist auf dem Weg zum Nachmittagsprogramm im Pflegestift Oberland. Romy Hänsch ist heute als Betreuerin im Dienst und übernimmt die Beschäftigung der Senioren im Wohnbereich "Kottmar" an diesem Nachmittag. Als Betreuungskraft ist Romy Hänsch keine Pflegerin, sondern sozusagen für die Unterhaltung der alten Menschen zuständig. Klingt lustig, fordert den Kollegen aber viel ab, wie ich noch feststellen werde.
Die Betreuer, sagt Cornelia Neumann, Pflegedienstleiterin im Pflegestift Oberland, sind ein Segen für alle. Denn das Pflegepersonal hat mit der tatsächlichen Pflege der Patienten alle Hände voll zu tun. Für Extra-Würste bleibt da wenig Zeit. Diese Extra-Würste übernehmen die zusätzlichen Betreuungskräfte. So heißt der Job von Romy Hänsch offiziell. In jedem der vier Wohnbereiche im Pflegestift Oberland arbeiten - zusätzlich zu den Pflegern - zwei solcher Betreuungskräfte. Sie kümmern sich um 30 Bewohner.
Seit 2009 zahlen die Pflegekassen für diese zusätzliche Betreuungsleistung. Ein richtiger Ausbildungsberuf ist die Betreuungskraft aber nicht. Die Mitarbeiter müssen allerdings eine mehrmonatige Ausbildung absolviert haben. Zudem müssen sie jährlich erneut geschult werden an dafür zugelassenen Fortbildungseinrichtungen.
Auch Schauspiel-Talent ist gefragt
Oft singt Romy Hänsch mit den Bewohnern, spielt dazu auf der Gitarre. Heute steht Beruferaten auf dem Programm. Nachdem alle Senioren, die mitmachen wollen, in der Runde Platz genommen haben, stellt sie eine große Kiste in die Mitte. Darin hat sie allerhand Utensilien mitgebracht, einen Kochlöffel zum Beispiel, ein Stück Kreide, einen Hammer, eine Eisenbahner-Mütze. Ich reiche die Kiste herum. Jeder darf sich ein Teil aussuchen und erraten, welcher Beruf dahinter steckt.
Dann ist schauspielerisches Talent gefragt. Gut, dass ich früher als Studentin auch mal als Statistin bei Fernsehproduktionen gearbeitet habe. Romy Hänsch hält mir einen Zettel hin, auf dem eine ganze Reihe unterschiedlichster Berufe stehen. Ich soll mir einen aussuchen und typische Bewegungen vorführen. Die Senioren sollen dann erraten, was für einen Beruf ich vormache. Ich will es den Rentnern leicht machen und entscheide mich für den Waldarbeiter. Ich hole mit beiden Armen in der Luft weit aus und schlage auf den imaginären Holzklotz. "Holzhacken", ruft einer der Senioren gleich. Aber Romy Hänsch ist streng. Sie bleibt beharrlich und will den korrekten Begriff aus den Senioren herauskitzeln.
"Nach einer Weile tauen sie auf", sagt Romy Hänsch. "Das merkt man jedes Mal." Dann kommen nach und nach Erinnerungen zurück, sie erzählen aus ihrem Leben. Auch an diesem Nachmittag. Sie erzählen uns von ihren Berufen, die sie früher ausgeübt haben. Frau Müller war Köchin in einer Gaststätte in Zittau. Jetzt wird sie bald 99 und das Kochen hat sie jung gehalten, sagt sie und lacht verschmitzt. Eine andere Seniorin war Erzieherin. Sie liebte es, Kindern etwas beizubringen. Und Frau Eichhorn war Zuschneiderin in einer Fabrik in Ebersbach. Sie schnitt Kunstlederteile zurecht, aus denen dann Handtaschen hergestellt wurden. Ursprünglich hatte sie Verkäuferin gelernt. "Aber in der Produktion verdiente man besser."
Sie lebt erst seit einem halben Jahr im Ebersbacher Pflegestift. "Kommen Sie mal mit", sagt die lustige, kleine Frau und winkt mich hinter sich her, während sie flink an ihrem Rollator vorneweg den Gang entlang läuft. Sie will mir ihr Zimmer zeigen. Beinahe stolz öffnet sie die Türe und präsentiert ihr neues Zuhause. Für das geräumige Zimmer im Erdgeschoss der Einrichtung mit den großen Fenstern hat sie ihre Wohnung im Oberland verlassen. "Ich habe es noch keinen Tag bereut", sagt die 90-Jährige. Das glaube ich sofort, denn Frau Eichhorn lacht fröhlich bei jedem Satz, den sie sagt. Besonders aber leuchten ihre Augen, wenn sie von "der Romy" redet. "Wenn die Romy was macht, dann bin ich immer dabei."
Und Romy Hänsch ist fast jeden Tag für die Bewohner da, auch am Wochenende und an Feiertagen sind die Betreuer im Dienst. Beschäftigungsangebote, die das Gedächtnis anregen, stehen regelmäßig auf der Tagesordnung. Dazu gehört neben solchen Spielen wie dem Berufe-Raten auch kochen und backen oder sogar Staub wischen. "Das sind Tätigkeiten, die die Leute von früher kennen", erklärt die Betreuerin. Sie freuen sich, wenn sie wieder etwas Sinnvolles tun können - und auch etwas von ihrer Lebenserfahrung weitergeben können. "Alles, was ich beim Kochen noch nicht wusste", erzählt Romy Hänsch, "habe ich von den Bewohnern gelernt."
Seit 15 Jahren im Job
Die Beruferate-Runde geht zu Ende. Nach einer knappen Stunde sind die Senioren zwar redseliger geworden. Aber auch ein bisschen unruhig und die meisten müssen mal auf's Klo. Ich bin beinahe schon heiser. Fast alle sind hier schwerhörig und so lange so laut zu sprechen, das sind meine Stimmbänder nicht gewohnt.
Für uns ist das Beschäftigungsprogramm aber noch nicht vorbei. Nun sind die Einzelbetreuungen dran, erklärt mir Romy Hänsch. Es gibt ja auch bettlägrige Patienten, die nicht aus ihren Zimmern können. Manche Senioren können oder wollen aus anderen Gründen nicht an den Gruppenangeboten teilnehmen. Sie fühlen sich einfach in der Gruppe nicht so wohl, brauchen individuelle Betreuung.
Wir besuchen einen Bewohner, der sein Bett nicht mehr verlassen kann. "Demenz im letzten Stadium", sagt Betreuerin Romy Hänsch. Sie begrüßt den Mann, redet mit ihm, als wäre alles ganz normal. Dass keine Antwort kommt, damit kann sie umgehen. Seine Hände zittern unruhig. Die Betreuerin hält sie fest, streicht dem über 80-Jährigen fest über den Arm. "In diesem Stadium kann man meist nur noch über die Sinne mit dem Menschen Kontakt aufnehmen", erklärt Romy Hänsch. Hautkontakt gehört dazu. Und Essen. "Wenn es was Leckeres gibt, machen sie meistens schon von alleine den Mund auf." Unser Bewohner hier nascht gerne Schokolade. Jetzt gibt's aber erstmal was zu trinken. Auch das kann er sich nicht mehr selbst nehmen, Romy Hänsch hält ihm einen Schnabelbecher an den Mund. Der Mann umgreift ihn sogar selbst mit den Händen. "Prima", lobt Romy Hänsch überschwenglich. "Das klappt ja heute gut." Ich halte mich hier lieber im Hintergrund. Während Romy Hänsch dem Mann routiniert den Becher hält, komme ich an eine Grenze, die ich lieber nicht überschreiten will.
Romy Hänsch hat ursprünglich einen technischen Beruf gelernt. Sie ist Facharbeiterin für Betriebsmess-Steuerungs- und Regelungstechnik. Ein DDR-Beruf, den es heute nicht mehr gibt. Große Schaltschränke hat sie in der Ausbildung in Leipzig installiert. Nach mehrjähriger Berufspause, in denen sie ihre Kinder großzog, entschied sie sich, etwas mit Senioren zu machen. "Ich kann gut mit alten Leuten umgehen." 15 Jahre arbeitet sie jetzt als Betreuungskraft, vier davon im Pflegestift Oberland.
In Baden-Württemberg, erzählt die Altenbetreuerin, gebe es ein Pilotprojekt, das darauf abzielt, die Betreuungskraft zu einem anerkannten Ausbildungsberuf zu machen. "Ich würde das sehr begrüßen", sagt Romy Hänsch. Immerhin sei das nicht nur Bespaßung. Man müsse etwa die Krankheitsbilder kennen, um richtig mit den alten Menschen umzugehen, bei Demenz zum Beispiel. Kenne man sich damit nicht aus, würde man einen, der sich aggressiv verhält, als Störenfried abstempeln. "Er ist aber einfach überfordert, ihm ist alles zu viel. Aggressive Reaktionen sind dann typisch für die Krankheit."
Massage ist der Renner
Und tatsächlich ist heute ein Bewohner ziemlich aufgebracht. Die Anwesenheit vom SZ-Fotografen hat ihn so aufgeregt. Der Senior hat Demenz. Wenn etwas nicht läuft, wie gewohnt, wird er schnell sehr unruhig und auch aggressiv. Romy Hänsch weiß, wie sie ihn beruhigen kann. Mit ruhiger Stimme spricht sie mit ihm und bietet ihm eine Handmassage an. Als Betreuerin darf sie die Bewohner auch massieren. Für die Wellnessmassage hat Romy Hänsch extra einen Kurs absolviert, in dem sie die richtigen Handgriffe lernte. Die will sie mir nun zeigen. Dazu muss ich mein liebstes Schmuckstück ablegen - den Ehering. Romy Hänsch trägt bei der Arbeit grundsätzlich keinen, aus hygienischen Gründen.
Zuerst gibt's einen Klecks Baby-Pflegeöl auf die Hände. Behutsam massieren wir dem alten Mann die Hände, eine übernimmt Romy Hänsch, ich die andere. Nach und nach entspannen sich die verkrampften Muskeln. "Die Massagen sind der Renner", erzählt mir Romy Hänsch nebenbei. Das Heim hat extra ein Pflegebad zum Massageraum umfunktioniert. Mit Fliesenlack wurden die sterilen weißen Wände in ein warmes Gelb verwandelt. Eine Massageliege steht in der Mitte. Regelmäßig bieten die Betreuerinnen dort Massagen für die Bewohner an. "Alle, die nicht drankommen, sind dann immer furchtbar traurig. Aber unsere Zeit ist ja auch begrenzt."
Kochen, spielen, musizieren, singen, massieren - der Job von Romy Hänsch und ihren Kollegen ist vielseitig, aber auch anstrengend. Sechs Stunden dauert eine Schicht. Sechs Stunden, in denen die Betreuerin immer konzentriert und ansprechbar sein muss. Sechs Stunden, in denen sie auf die unterschiedlichsten Launen und Befindlichkeiten reagieren muss, die das Alter so mit sich bringt.
Und dann ist da noch der Papierkram. "Alles, was man mit den Bewohnern macht, muss dokumentiert werden." Dazu müssen Romy Hänsch und ihre Kollegen notieren, wie der Bewohner darauf reagiert hat.
Manchmal wird Romy Hänsch aber auch zur Helferin in geheimer Mission. Einmal hat sie einem Bewohner geholfen, seine Frau zu überraschen, die selbst nicht im Heim lebt. Ihr gefiel ein Kaktus, der im Pflegeheim auf dem Gang stand. Der Mann wollte ihr so einen schenken, es ließ sich aber kein solches Exemplar auftreiben. Da machte er einen Deal mit der Heimleitung, er bekam den Kaktus und spendierte dem Heim eine neue Pflanze.
Gemeinsam mit Romy Hänsch packte er den Kaktus dann als Geschenk ein. Kein leichtes Vorhaben. Die Beschenkte hat dann bei Romy Hänsch angerufen. Eine halbe Stunde haben sie miteinander telefoniert, immer wieder bedankte sich die Frau, die überglücklich war mit dem originellen Geschenk. "Das sind die Momente, die meinen Job ausmachen", sagt Romy Hänsch. "Man hat das Gefühl, den Leuten etwas Gutes zu tun." Wohlfühlen heißt das Zauberwort, damit alle zufrieden sind. "Pflege ist mehr als waschen und füttern", sagt die Betreuerin.
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