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Sie macht was ihr gefällt

Vor 75 Jahren betrat eine besondere Figur die literarische Welt: Pippi Langstrumpf. Was kann uns die merkwürdige Kinderbuch-Heldin heute noch geben?

Von Christina Wittig-Tausch
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So sieht Pippi seit 75 Jahren in Schweden aus. Illustriert wurde Pippi damals von Ingrid Vang Nyman.
So sieht Pippi seit 75 Jahren in Schweden aus. Illustriert wurde Pippi damals von Ingrid Vang Nyman. © Astrid Lindgren Company

Als vor einigen Jahren die Schweden befragt wurden, was sie für die größte und wichtigste kulturelle Errungenschaft ihres Landes hielten, gab es eine Überraschung. Auf dem ersten Platz landeten kein Literat und auch sonst keine Persönlichkeit der Hochkultur, sondern eine Kinderbuch-Figur der schwedischen Autorin Astrid Lindgren: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf, kurz Pippi Langstrumpf genannt, das merkwürdigste und stärkste Mädchen der Welt.

Auf den ersten Blick wirkt sie nicht wie eine klassische Heldin. Das war schon vor 75 Jahren beim Erscheinen des ersten Buchs mit Pippi Langstrumpf so. Und das ist heute nicht anders, in den Zeiten eines perfekten, körperoptimierten Menschenbildes. Pippi hat Sommersprossen, die sie nicht im geringsten stören, und karottenrote Haare, die in zwei steifen Zöpfen vom Kopf abstehen. Sie trägt selbst genähte Sachen, an denen sie bei Bedarf herumschnippelt. Dazu Schuhe, die doppelt so lang sind wie ihre Füße, sowie einen schwarzen und einen geringelten Strumpf. Jahrelang fuhr sie mit ihrem Seeräuber-Vater über die Meere der Welt, um im Alter von neun Jahren in einer „kleinen, kleinen Stadt“ zu landen. Dort lebt sie mit ihrem Affen, Herrn Nilsson, und ihrem Pferd, dem Kleinen Onkel. Und macht, was ihr gefällt. Sie läuft gern rückwärts, turnt ständig herum, erzählt wunderliche Geschichten, widerspricht Erwachsenen, vertilgt eine Torte zum Frühstück und geht lieber Spielen als zur Schule. Die Mutter ist schon lange tot. Der Vater, dessen Beruf etwas unklar mit „Südsee-König“ angegeben wird, ist weiter die meiste Zeit abwesend. Immerhin hat er Pippi mit einem Koffer voller Goldstücke ausgestattet. Außerdem noch mit der Villa Kunterbunt, einem etwas heruntergekommenen Kasten. Kleiner Onkel wohnt auf der Veranda. Wenn Pippi dort Kaffee trinken will, trägt sie ihn kurzerhand in den Garten, denn sie verfügt über Bärenkräfte.

Lächelnd trägt die Schauspielerin Inger Nilsson in einem Film von 1968 als "Pippi Langstrumpf" ihr Äffchen "Herr Nilsson" auf der Schulter spazieren. Vor 75 Jahren kam das erste Werk über Pippi Langstrumpf heraus.
Lächelnd trägt die Schauspielerin Inger Nilsson in einem Film von 1968 als "Pippi Langstrumpf" ihr Äffchen "Herr Nilsson" auf der Schulter spazieren. Vor 75 Jahren kam das erste Werk über Pippi Langstrumpf heraus. © epa Scanpix Sweden/dpa

Die Erfindung von Pippi ist nicht das Ergebnis langer Planung, sondern eines Zufalls. 1941 lag Astrid Lindgrens siebenjährige Tochter Karin krank im Bett und langweilte sich. Astrid Lindgren war noch längst nicht die berühmteste Kinderbuchautorin der Welt, sondern Stenografin in Stockholm. Karin sagte plötzlich: „Erzähl mir was von Pippi Langstrumpf“, und die 34-jährige Mutter spann verrückte Geschichten um den eigentümlichen Namen. Diese Pippi ging Astrid Lindgren nicht mehr aus dem Kopf, obwohl es so viele große und schwere Dinge gab, die sie beschäftigten. Die Tatsache, dass sie ihren Sohn als junge, unverheiratete Mutter in seinen ersten Lebensjahren weggegeben und erst kurz vor ihrer Hochzeit mit Karins Vater zu sich geholt hatte. Und der Krieg. Schweden war zwar neutral, aber, so zeigen es die Tagebücher Astrid Lindgrens, das Wüten des nationalsozialistischen Deutschlands und das massenhafte Töten machten sie traurig und verzweifelt.

Als sich Astrid Lindgren 1944 den Fuß verstauchte und das Bett hüten musste, begann sie, die Geschichten um Pippi Langstrumpf aufzuschreiben. Diese Ur-Pippi war aufsässiger und kantiger als die Pippi, wie man sie aus den späteren Büchern kennt. Es ist denkbar, dass Lindgrens Verzweiflung über Tyrannei und der Wunsch nach Aufbruch aus überkommenen Strukturen Pippi Langstrumpf prägten; tatsächlich kämpft Pippi im Zirkus mit einem Muskelprotz namens Adolf, dem stärksten Mann der Welt. Ebenso aber flossen vielleicht Schuldgefühle und die Erfahrung von Einsamkeit in die Geschichten ein. So feiert Pippi in ihrer Villa gern Feste, „dass es kracht“, sitzt aber auch allein vor einer Kerze im Haus. Oder weint im Theater über eine einsame Bühnenfigur, der sie noch während des Stücks anbietet, zu ihr in die Villa Kunterbunt zu ziehen.

Was SZ-Redakteure von Pippi Langstrumpf halten:

Logisch rebellisch
Der Soundtrack meiner westdeutschen Kindheit der 80er-Jahre besteht aus Astrid Lindgren-Geschichten. Michel, Mio oder eben Pippi hinterließen ihren Sound und damit Spuren in meiner Geschichte. Pippis Spuren sind naturgemäß ziemlich groß. Sie fühlen sich nach Freiheit an und nach Ungehorsam. Dabei war dieser – anders als in vielen anderen Kinderbüchern – nichts Verwerfliches, sondern sogar wünschenswert. Pippis Leben, das sich jeder gesellschaftlichen Konformität entzieht, ist so kindgerecht, dass es mir beim Zuhören nicht mal rebellisch vorkam. Die Füße aufs Kissen zu platzieren scheint aus kindlicher Sicht ebenso logisch wie die Weigerung, mit der strengen Kinderheimleiterin mitzugehen.
Erst als Mutter, die ihren eigenen Kindern vorliest, wurde mir der gesellschaftskritische und feministische Gehalt der Figur bewusst. Pippi hält einer damals wie heute massiv kinderfeindlichen Welt den Spiegel vor, das rührt mich noch immer. Zum Glück müssen die Zuhörer das noch nicht wissen – sie dürfen einfach genießen. Johanna Lemke
Logisch rebellisch Der Soundtrack meiner westdeutschen Kindheit der 80er-Jahre besteht aus Astrid Lindgren-Geschichten. Michel, Mio oder eben Pippi hinterließen ihren Sound und damit Spuren in meiner Geschichte. Pippis Spuren sind naturgemäß ziemlich groß. Sie fühlen sich nach Freiheit an und nach Ungehorsam. Dabei war dieser – anders als in vielen anderen Kinderbüchern – nichts Verwerfliches, sondern sogar wünschenswert. Pippis Leben, das sich jeder gesellschaftlichen Konformität entzieht, ist so kindgerecht, dass es mir beim Zuhören nicht mal rebellisch vorkam. Die Füße aufs Kissen zu platzieren scheint aus kindlicher Sicht ebenso logisch wie die Weigerung, mit der strengen Kinderheimleiterin mitzugehen. Erst als Mutter, die ihren eigenen Kindern vorliest, wurde mir der gesellschaftskritische und feministische Gehalt der Figur bewusst. Pippi hält einer damals wie heute massiv kinderfeindlichen Welt den Spiegel vor, das rührt mich noch immer. Zum Glück müssen die Zuhörer das noch nicht wissen – sie dürfen einfach genießen. Johanna Lemke © Ronald Bonß
Erst mit meinen Kindern habe ich Pippi via Film wirklich kennengelernt. Und war von Anfang an von ihren Tieren fasziniert. Noch mehr, als ich von deren Eigenheiten erfuhr. Der sanftmütige Schimmel „Kleiner Onkel“ hat bei Astrid Lindgren gar keinen Namen. Den erfand Pippi-Darstellerin Inger Nilsson spontan bei einem Dreh. Und für die Szene, in der das Mädchen den Wallach hochhebt, wurde der ohne Beruhigungsmittel auf einer Plattform hochgefahren und musste ganz still auf einem verspiegelten Fußboden stehen, damit der Trick funktionierte. Herr Nilsson wiederum, das Totenkopfäffchen, war bei der Crew unbeliebt. Der Grund: Der Affe mochte weder Strick-Pullover noch Strohhut tragen. Er wehrte sich mit Nägeln und Zähnen. Auch saß er nur ungern auf den Schultern der Kinder. Man band ihn dann dort fest, was er etwa mit Bissen in die Pippi-Zöpfe quittierte. Und wenn der kleine Affe auch noch Angst bekam, dann konnte es passieren, dass er den Schauspielern aufs Kostüm pinkelte. Im Film freilich wirkte er allerliebst und niedlich – ein ebenso idealer Nebendarsteller wie das Pferd. Bernd Klempnow
Erst mit meinen Kindern habe ich Pippi via Film wirklich kennengelernt. Und war von Anfang an von ihren Tieren fasziniert. Noch mehr, als ich von deren Eigenheiten erfuhr. Der sanftmütige Schimmel „Kleiner Onkel“ hat bei Astrid Lindgren gar keinen Namen. Den erfand Pippi-Darstellerin Inger Nilsson spontan bei einem Dreh. Und für die Szene, in der das Mädchen den Wallach hochhebt, wurde der ohne Beruhigungsmittel auf einer Plattform hochgefahren und musste ganz still auf einem verspiegelten Fußboden stehen, damit der Trick funktionierte. Herr Nilsson wiederum, das Totenkopfäffchen, war bei der Crew unbeliebt. Der Grund: Der Affe mochte weder Strick-Pullover noch Strohhut tragen. Er wehrte sich mit Nägeln und Zähnen. Auch saß er nur ungern auf den Schultern der Kinder. Man band ihn dann dort fest, was er etwa mit Bissen in die Pippi-Zöpfe quittierte. Und wenn der kleine Affe auch noch Angst bekam, dann konnte es passieren, dass er den Schauspielern aufs Kostüm pinkelte. Im Film freilich wirkte er allerliebst und niedlich – ein ebenso idealer Nebendarsteller wie das Pferd. Bernd Klempnow © Thomas Kretschel
Gift fürs Gemüt
Nicht für vieles, was die DDR-Entscheider für mich entschieden, bin ich ihnen heute dankbar. Dafür, dass sie mir Pippi Langstrumpf vom Leib hielten, hingegen schon. Höchstens als Schatten huschte diese dauerüberdrehte Person also durch meine Kindheit. Als Erwachsener musste ich sie nur immer mal wieder für wenige Minuten ertragen. Genau so lange, wie es dauerte, bis ich meinen Sohn davon überzeugt hatte, schleunigst den Sender zu wechseln. Glück gehabt. Das brave Kind zeigte sich meinen Argumenten gegenüber sehr aufgeschlossen. Diese penetrante wie folgenlose Behauptung des Andersseins, das unentwegte Quatschgequassel der Pippi L. schlagen mir eben einfach aufs Gemüt. Diese Ohohoho-ich-bin-so-total-anders-Attitüde, plakativst durchs Tragen unterschiedlicher Strümpfe demonstriert, ist doch so wenig Punk wie der Kinnbart des Sandmännchens. Nur tut der – im Gegensatz zu Frau L. – ja auch nicht so, als wäre er der Outlaw der Kinderfernsehwelt. Sie ist zweifellos die wirksamste aller Nervensägen. Nur fort mit ihr! Andy Dallmann
Gift fürs Gemüt Nicht für vieles, was die DDR-Entscheider für mich entschieden, bin ich ihnen heute dankbar. Dafür, dass sie mir Pippi Langstrumpf vom Leib hielten, hingegen schon. Höchstens als Schatten huschte diese dauerüberdrehte Person also durch meine Kindheit. Als Erwachsener musste ich sie nur immer mal wieder für wenige Minuten ertragen. Genau so lange, wie es dauerte, bis ich meinen Sohn davon überzeugt hatte, schleunigst den Sender zu wechseln. Glück gehabt. Das brave Kind zeigte sich meinen Argumenten gegenüber sehr aufgeschlossen. Diese penetrante wie folgenlose Behauptung des Andersseins, das unentwegte Quatschgequassel der Pippi L. schlagen mir eben einfach aufs Gemüt. Diese Ohohoho-ich-bin-so-total-anders-Attitüde, plakativst durchs Tragen unterschiedlicher Strümpfe demonstriert, ist doch so wenig Punk wie der Kinnbart des Sandmännchens. Nur tut der – im Gegensatz zu Frau L. – ja auch nicht so, als wäre er der Outlaw der Kinderfernsehwelt. Sie ist zweifellos die wirksamste aller Nervensägen. Nur fort mit ihr! Andy Dallmann © Thomas Kretschel

Das Pippi-Manuskript schenkte Astrid Lindgren ihrer Tochter an ihrem zehnten Geburtstag am 21. Mai 1944. Im Jahr darauf fand sie einen Verlag für ihre überarbeiteten Pippi-Geschichten. Noch 1945 erschien das erste Buch, bis 1948 zwei weitere. Schon kurz nach dem Erscheinen war klar: Pippi ist eine Figur, die polarisiert. Man mag sie oder man mag sie nicht, dazwischen gibt es nicht viel. Den einen war sie zu übertrieben, zu grob, zu fantastisch, zu gefährlich. Viele schwedische Kinder jedoch liebten sie. Das Buch erreichte schnell hohe Auflagen und wurde ein Erfolg. In Deutschland und anderen Teilen Europas dauerte das länger. Fünf deutsche Verlage lehnten Pippi ab. Erst der damals noch kleine Verlag von Friedrich Oetinger in Hamburg nahm Pippi 1949 ins Programm. In der DDR erschien Pippi 1975 in einer einzigen Auflage. Heute gehören die drei Bände zu den erfolgreichsten Kinderbüchern der Welt, erreichen Millionenauflagen, wurden in 77 Sprachen übersetzt, verfilmt und auf Theaterbühnen gebracht.

Sie hat Macht und missbraucht sie nicht

Warum Pippi seit Jahrzehnten so viele Menschen fasziniert, darüber wird immer noch gerätselt und viel geschrieben. Manche Mädchen und Frauen lieben sie, weil sie ein starker, weiblicher Held ist, eine Rebellin. Sie presst sich nicht in rosa Gewänder und verbringt ihre Tage nicht in Erwartung eines Märchenprinzen, wie das sogar in zeitgenössischen Büchern und Filmen vielfach passiert. Stattdessen sucht sie gern „Sachen“ und stürzt sich in Abenteuer, sei es auf der Taka-Tuka-Insel, im Garten der Villa Kunterbunt oder in der kleinen Stadt. Ihre gewaltigen Kräfte setzt sie nicht für sich ein, sondern um Gemeinheit und Gewalt gegen Kinder und Tiere zu beenden. Mit ihren ständigen Sprachspielereien stellt Pippi Langstrumpf Autorität, scheinbar zementierte Werte oder überkommenes Denken auf sehr lustige Weise und ohne Gewalt in Frage. Denn, so Pippi, „die Zunge verwelkt, wenn man sie zu selten gebraucht.“ Dass sie damit immer wieder aneckt, ist ihr völlig egal.

Astrid Lindgren hat sich nicht weitschweifig geäußert über den tieferen Sinn ihrer Pippi-Bücher. Im Gespräch mit einer Verlegerin sagte sie einmal: „Wenn Pippi jemals eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die, zu zeigen, dass man Macht haben kann und sie nicht missbraucht.“ Für die 2002 gestorbene Autorin war dies die größte aller Herausforderungen, für den einzelnen Menschen genauso wie für ganze Länder.

Tipps:

  • Pippi Langstrumpf – Heldin, Ikone, Freundin. Oetinger Verlag, 30 Euro.

  • Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf – Alle Abenteuer in einem Band. Oetinger, 20 Euro.

  • Den Film „Astrid“ gibt es als Free-TV-Premiere am 21.5. im ZDF um 20.15 Uhr.