So lebt es sich auf Europas größtem Campingplatz

Von Almut Siefert
Verlassene Sonnencremeflaschen, ein aufgeblasenes Einhorn und ein voller Wäscheständer halten die Stellung vor den Wohnwagen. Mittags um zwei ist der größte Campingplatz Europas wie ausgestorben. Stille liegt über der „Marina di Venezia“. Der Trubel findet zu dieser Tageszeit rund 300 Meter weiter statt. Wie auf dem Platz die Wohnwagen, reihen sich nun am Strand auf 1,2 Kilometern Länge die Sonnenschirme aneinander. Wie bunte Riesenpilze scheinen sie aus dem Sand zu schießen.
Zwei Stunden später kommt wieder Bewegung auf den Platz: Zwei Luftmatratzen unter dem einen Arm, den Liegestuhl unterm anderen geht es zurück zum Platz. Die Profis karren ihre Liegen, Lumas, Schirme und Kühltaschen mit einem Handwagen wieder in das mobile Heim auf Zeit. Auf einer Fläche von 80 Hektar, das entspricht etwa der Größe von 112 Fußballfeldern, machen derzeit rund 10.000 Menschen gleichzeitig Urlaub. Doch statt Platzangst empfinden die Camper vor allem eines: Freiheit.
„Hier kann man einfach mal wieder Luft holen“, sagt Stefan Schweiss. In die schwüle Abendluft hat sich nun der Duft von Grillkohle gemischt. Der 55-jährige Stuttgarter ist schon zum 15. Mal mit seiner Frau Andrea und der 22-jährigen Tochter Josephin, auf dem Campingplatz „Marina di Venezia“.
Einen Fernseher hat Familie Schweiss übrigens nicht dabei. „Absichtlich nicht!“, sagt Stefan Schweiss. „Auch kein Radio, wir gehen komplett auf Entzug.“ Nur das Handy bleibe an, um ab und zu mal die Nachrichten zu lesen. „Wir wollen hier im Urlaub ganz bewusst keine Reizüberflutung. Die hat man ja sonst das ganze Jahr über“, sagt Andrea Schweiss.

Trotzdem: Verzichten muss man hier auf nichts. „Marina di Venezia ist wie eine kleine Stadt“, sagt Massimo Battaglio. Der 45-jährige Südtiroler ist für das Marketing, die Buchungen und die Zufriedenheit der Gäste zuständig. „Es gibt hier unter anderem einen Supermarkt, einen Fischhändler, einen Stand mit frischem Gemüse und vier eigene Restaurants“, so Battaglio. Auch eine Krankenstation und einen Tierarzt gibt es. Dass hier in der Hochsaison bis zu 12.000 Menschen unterkommen, würde man aber bei der Größe des Platzes gar nicht merken.
Familie Schweiss bleibt rund drei Wochen. Wie ein typischer Camper-Tag aussieht? „Ausschlafen“, sagen alle drei sofort. „Einen Wecker gibt es hier nicht“, sagt Stefan Schweiss. Anders als im Hotel müsse man sich hier an keine festen Essenszeiten halten – und auch anziehen könne man, was man wolle. Wobei es auch beim Camping eine Art Uniform zu geben scheint: Wer nicht in Badehose und Schlabber-T-Shirt herumläuft, fällt zumindest auf.
Germano Mainardi verzichtet ganz auf das Oberteil, während er das trockene Gras auf seinem Stellplatz zusammenrecht. Vor dem Vorzelt zu seinem Wohnwagen stehen gepflegte Balkonkästen mit Geranien. Man könnte meinen, sie dienten als Schutzwall vor den anderen Gästen. Doch den 76-Jährigen und seine ein Jahr ältere Frau Bruna Martini stören die anderen nicht. Die Italiener kommen schon seit 40 Jahren auf diesen Campingplatz, ihr Wagen steht immer an derselben Stelle. Auch in diesem Jahr verbringen sie den ganzen Sommer hier – erst Ende September machen sie sich wieder auf den Heimweg, in das nur 70 Kilometer entfernte Mestre bei Venedig. „Wir sind hier, um frei zu sein“, sagt Bruna Martini. „Hier ist es wie zu Hause – nur eben mit Strand und Meer.“
Unter dem Vorzelt steht die beige De Longhi Espresso-Maschine, gegenüber der kleine Flachbildfernseher. Die Platznachbarn seien mit den Jahren gute Freunde geworden, sagt die 77-Jährige. Deutsche seien das. Nein, sie selbst sprächen kein Deutsch, die Nachbarn kein Italienisch. „Aber man versteht sich schon irgendwie“, sagt sie und macht ein paar Gesten mit den Händen.

1958 hat der Campingplatz „Marina di Venezia“, der nur eine halbe Bootsstunde von der Lagunenstadt Venedig entfernt an der Adria liegt, seine Tore geöffnet. Noch heute ist er in den Händen der zwei Gründerfamilien Canale und Bertollini. Die kamen ursprünglich aus der Zuliefererindustrie. Und in Kooperation mit den großen Autofirmen kam auch die Idee für den Campingplatz auf. „Die ersten Jahre prangte hier noch das VW-Logo“, erzählt Battaglio. Volkswagen beteiligte sich in den Anfangsjahren an den Investitionen, die deutschen Werksarbeiter bekamen günstigere Konditionen für ihren Urlaub in Italien.
Ein Modell, das nicht nur für die „Marina di Venezia“ angewandt wurde. 31 Campingplätze befinden sich heute entlang des Küstenstreifens an der Adria. „Es ist die Region in Europa mit der höchsten Dichte an Campingplätzen“, sagt Battaglio. Sieben haben sogar die höchste ADAC-Bewertung „Superplatz“. Die „Marina di Venezia“ gehört dazu.
„Die Deutschen haben das Campen hierhergebracht“, sagt Battaglio. Auch heute sei der Ort als Urlaubsort außerhalb Italiens bekannter als innerhalb des Landes. 55 Prozent der Gäste der „Marina di Venezia“ sind Deutsche. Danach folgen die Italiener mit 15 Prozent, acht Prozent der Camper kommen aus der Schweiz, sieben Prozent aus Dänemark und fünf Prozent aus Österreich. Auf dem Platz gibt es auch feste Behausungen: Bungalows zum Mieten, die einem den Komfort einer eigenen Toilette und einer eigenen Küche bieten.
Diese seien für manche der erste Schritt zum echten Camping, sagt Massimo Battaglio. „Viele tasten sich so erst einmal an die Idee heran.“ Die Schweissens aus Stuttgart zählen mit 15 Jahren Campingerfahrung schon zu den Profis. „Muckis sind das wichtigste, was man einpacken muss“, sagt Stefan Schweiss. Der Wohnwagen wird zwar das Jahr über in einem nahegelegenen Depot untergestellt. Dort wird er gewaschen und dann zum gewünschten Termin auf den Platz gebracht. Trotzdem: Wenn man ankommt, beginnt erst einmal das Einrichten und Aufbauen. „Also einen halben Tag muss man dafür schon investieren.“ Wohlbemerkt: nach einer neunstündigen Anreise.
So viel Aufwand – wäre es da nicht einfacher, in einem Hotel Urlaub zu machen? Nein, sagt Schweiss, den Luxus, den er zu Hause habe, brauche er nicht auch noch im Urlaub. „Ich schätze einfach das Ursprüngliche. Man kommt an, baut alles auf und lässt sich den Rest des Urlaubs treiben.“ Der 55-Jährige ist Angestellter bei Porsche. Zum Campen sagt er: „Entweder man mag es oder man hasst es.“ Ein Kollege sage immer: Campen sei Hartz-IV-Urlaub. „Aber mit Geld sparen hat Camping heute nichts mehr zu tun. Eine Woche All-Inclusive auf Mallorca oder in der Türkei ist eindeutig günstiger als eine Woche auf dem Campingplatz hier.“

Das Benzin, die Platzmiete (in der Hochsaison pro Tag 32,50€), die Tagespauschale pro Person (13,30€) und dann noch die Verpflegung – das läppert sich. „Wer sich heute für einen Campingurlaub entscheidet, tut das nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Philosophie dahinter“, so Schweiss.
Komfort braucht auch Familie Loretz im Urlaub nicht. Sie ist am frühen Morgen gerade dabei, ihr Zelt abzubauen. „Seit sechs Uhr sind wir auf den Beinen“, sagt Andrea Loretz. Die 38-Jährige staubt das vier mal sechs Meter große Zelt, in dem die vierköpfige Familie die vergangenen 13 Tage verbracht hat, mit einem Handbesen ab. Am Mittag soll es wieder nach Hause gehen, nach Feldkirch in Vorarlberg. „Vor zwei Tagen haben wir schon angefangen, abzubauen – das ist immer ein Riesenaufwand.“ Aber die siebenjährige Noemi und der elfjährige Simeon packen fleißig mit an. Der Vorteil des Campens liegt für die junge Mutter auch darin, dass sie auf dem Campingplatz die Kinder einfach laufenlassen kann, ohne sich Sorgen zu machen. Auch ihr kommt als eines der ersten das Wort „Freiheit“ über die Lippen.
Doch ganz ohne Regeln geht es auch in der „Marina di Venezia“ nicht. Zwischen 13 und 15 Uhr und zwischen 23.30 und 7 Uhr ist Ruhezeit. Dann dürfen keine Autos fahren, der Lärm vor dem Wagen oder dem Zelt sollte auf ein Minimum reduziert werden. Und sauber ist es hier. Nicht eine Zigarettenkippe liegt am Straßenrand. Jeder Mülleimer ruft zur Trennung des Unrats auf. „Der Biomüll wird jeden Tag entsorgt“, erklärt Massimo Battaglio. Papier und Glas werden drei Mal die Woche abgeholt. Zahlreiche Verkehrsschilder zeigen an, wer vor wem Vorfahrt hat – und auf dem Gehweg finden sich nur Fußgänger.
„Da darfscht du nett durch“, tadelt ein Vater seinen Sohn lautstark und zwingt ihn, um die Verkehrsinsel herum zu radeln, statt die goldene, aber verbotene Mitte zu nehmen. Die Freiheit ist halt doch nirgends grenzenlos.