So streicheln wir richtig

Eine kleine Zahl macht den Unterschied. Sie entscheidet über tiefe Zuneigung oder Emotionslosigkeit. Sie trennt Nähe von Fremdem: die Zahl drei. Auf dem Forschungsgebiet von Ilona Croy spielen drei Zentimeter nämlich eine ganz wichtige Rolle. Die promovierte Psychologin am Universitätsklinikum Dresden beschäftigt sich mit Streicheleinheiten. Besser gesagt, mit dem Vorgang des Streichelns an sich und was er im Menschen auslöst. Während ihrer Forschungstätigkeit in Schweden stieß sie vor zehn Jahren zum ersten Mal auf das Thema. „Es ist absolut faszinierend, was beim Streicheln in uns passiert, welche Mechanismen dabei ausgelöst werden“, sagt sie. Die Berührungen sind für die meisten zuallererst angenehm. Wie angenehm aber genau, darüber entscheidet vor allem die Geschwindigkeit.
Das Streicheln wird noch nicht lange erforscht. Erst seit gut 15 Jahren stehen in diesem Zusammenhang ganz spezielle Nervenfasern im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses: die sogenannten C-Fasern. Sie gibt es in der Haut überall dort, wo auch Haare sind, also beispielsweise nicht an den Fußsohlen oder den Handinnenflächen. „In unserer Haut existieren verschiedene Arten von Nerven“, erklärt Ilona Croy. Zum einen solche für den Tastsinn, die Berührungen sehr schnell erkennen können. „Zum anderen eben die C-Fasern, die viel langsamer reagieren.“ Bisherige Forschungen zeigen, dass sie vor allem auf langsame Berührungen reagieren. Die Informationen darüber leiten sie direkt ins Belohnungszentrum des Gehirns weiter.
Eltern nutzen intuitiv die richtige Geschwindigkeit
Der Mensch nutzt seinen Streichelsinn für zwischenmenschliche Beziehungen. Das Geheimnis fürs perfekte Streicheln: Streichende Bewegungen mit einer Geschwindigkeit von drei Zentimetern pro Sekunde bei einer Temperatur von 32 Grad Celsius sind ideal. Das entspricht der Temperatur der Hautoberfläche. Wer sich der Haut also mit kalten Fingern nähert, könnte Protest ernten. In einer Studie untersuchte die Junior-Professorin, die an der Dresdner Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik eine eigene Forschungsgruppe leitet, mit ihrem Team, wie Eltern ihre neugeborenen Babys berühren. „Eltern nutzen intuitiv die richtige Geschwindigkeit.“ Andere Forscher konnten zudem beobachten, dass sich der Herzschlag des Kindes dabei reduziert. Sie beruhigten sich merklich. Das funktioniere nach Ergebnissen der Dresdner auch bei Erwachsenen. Das Streicheln verringere Stressgefühle. „Natürlich fühlt es sich auch einfach gut an.“
Derzeit untersucht die Forschungsgruppe, wie sich diese Beobachtungen auf die Therapie von Frühgeborenen anwenden lassen. Es geht dabei auch um die Frage, ab wann der Streichelsinn im Menschen überhaupt heranreift. „Es zeigen sich auch bei Frühchen schon positive Effekte durch das Berühren.“ Nach Ende der Studie könnte feststehen, wie die Behandlung von Frühgeborenen durch Berührungen und Streicheleinheiten eventuell unterstützt werden könnte.
Je vertrauter umso langsamer
Das Forschungsfeld rund um den Streichelsinn wächst indessen weiter. Waren es vor einigen Jahren lediglich ein paar Dutzend von Forschern, die sich damit beschäftigen, sind es heute um die 250, schätzt Ilona Croy. Sie ist Herausgeberin einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die sich Studien zu diesem Gebiet widmet. Eine hat sie gemeinsam mit Kollegen erst kürzlich selbst wieder veröffentlicht. Bei den Versuchen dazu streichelten Testpersonen ihre Partner, einen guten Freund, einen Fremden und – einen Tisch. „Je näher sich die Menschen standen, desto langsamer wurde gestreichelt“, nennt sie ein Ergebnis. Dann näherte sich die Streichelfrequenz dem Idealtempo an. Der Tisch war als Kontrollbedingung wichtig. Er wurde besonders schnell berührt. Paare, die angaben, eine hohe Qualität in ihrer Partnerschaft zu haben, streichelten sich langsamer. Auch interessant: Je attraktiver die Testperson den oder die Fremde fand, desto langsamer wurde auch diese unbekannte Person gestreichelt.
Viele Millionen C-Fasern in unserer Haut brauchen also die Berührung. Was passiert aber in Zeiten von Corona, in denen gerade das Händeschütteln zur Begrüßung nicht ratsam ist? „Uns fehlen dadurch wichtige Informationen“, sagt die Psychologin. Durch das Handgeben nehmen wir Kontakt zu unserem Gegenüber auf, wir fühlen ihn, wir tasten ihn ab, wir können ihn sogar riechen. „Jemanden so zu begrüßen sagt auch: Ich nehme dich wahr, ich vertraue dir.“ Mit einer Kollegin aus Norwegen stellt sich Ilona Croy derzeit die Frage, ob die Distanz bei der Begrüßung auch nach Corona bleibt. „Im formellen Bereich könnte das sogar passieren.“ Die beiden Wissenschaftlerinnen fanden Artikel aus den 1920er-Jahren, die schon auf die gesundheitlichen Risiken eines Handschlags hinwiesen. „Im Privaten werden wir uns aber weiterhin mit einer Umarmung begrüßen“, vermutet die Dresdnerin. Danach sehne sich der Mensch nun mal.