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So gehen georgische Diebesbanden vor

Diebe und Hehler verdienen mit gestohlenen deutschen Waren viel Geld. Manche beantragen sogar Asyl - nur um zu stehlen.

Von Tobias Wolf
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© Bundespolizei

Von Tobias Wolf (Text) und Paul Sander (Fotos)

Die Frau lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Gerade hatte sie noch Kisten mit Äpfeln in die Auslage gepackt, als sie umringt wird. 20 Polizisten umstellen am Dienstagvormittag den Gemüseladen und das Nagelstudio neben dem Rewe-Markt im Pirnaer Stadtteil Copitz. Ein gutes Dutzend stürmt in die Geschäfte. Beide gehören der 38-jährigen Vietnamesin. In Wollmütze und Winterjacke nimmt sie lächelnd den Durchsuchungsbefehl entgegen. Bundespolizisten belehren die Frau, nehmen ihr das Handy weg, damit sie niemanden warnt. Dass ein Haftbefehl gegen die zweifache Mutter vorliegt, wird sie erst am Abend erfahren.

Die Vietnamesin soll gestohlene Ware von georgischen Diebesbanden aufgekauft und nach Tschechien verschoben haben. Fast immer geht es dabei um Babynahrung, Zigaretten, Kaffee, Alkohol oder teure Kosmetik. Wo sonst Fingernägel manikürt und Gemüse verkauft werden, suchen Polizisten nun Beweise und Diebesgut.

Mit Babynahrung und Milchpulver von Marken wie Aptamil oder Milupa lässt sich seit den Skandalen um kunstharzverseuchte Milch in China viel Geld verdienen. Seither misstraut die Bevölkerung den Firmen und kauft lieber in Deutschland oder Europa ein – zu völlig überhöhten Preisen.

Die Ermittler der Bundespolizei drehen jede Obstkiste um, gucken in Verschläge, Regale und die Tische im Nagelstudio. Am Ende werden sie fündig: knapp 30 Packungen Aptamil. In einem anderen Gemüseladen der Frau in der Pirnaer Altstadt tauchen zur gleichen Zeit 300 Zahnbürsten auf, in ihrer Wohnung werden in diesem Moment Wertsachen und Geld beschlagnahmt. Es ist nicht der erste Volltreffer.


Die Polizei bereitet früh am Morgen ihren Einsatz vor.
Die Polizei bereitet früh am Morgen ihren Einsatz vor. © Paul Sander


Am Sonntag war die Vietnamesin mit ihrem Audi A6 Kombi auf der Autobahn 17 kontrolliert worden – randvoll beladen mit 350 Packungen Milchpulver, kistenweise Kosmetik, edlen Bio-Shampoos, teuren Rasierklingen und 200 Päckchen Gesichtscreme. Dazu ein handgeschriebener Zettel, eine Art „Einkaufsliste“, glauben die Ermittler, aber keine Rechnungen oder Kaufbelege. Ein schwerer Fehler, sonst kaufen die Hehler alibimäßig immer wieder Aptamil im Laden, damit bei Kontrollen zig einzelne Kassenzettel vorgelegt werden können, die kaum auf die Schnelle geprüft und ausgezählt werden können.

Die Fahrt passt in ein Muster, das die Bundespolizei schon 2016 aufgedeckt hat. Georgische Diebe stehlen hochwertige Waren in Einzelhandelsgeschäften und verkaufen sie für weniger als den halben Originalpreis vor allem an vietnamesische Hehler. Kostet die Packung Aptamil hier regulär um die 18 Euro, zahlen die Hehlerinnen rund sieben Euro für gestohlenes Milchpulver an die Georgier. In China kostet es je nach Qualität bis zu 100 Euro. Über den Flughafen Prag wird das Pulver exportiert.

Zwei 29-jährige Georgier, die der Frau das Diebesgut verkauft haben sollen, hatten schon um kurz nach sechs Uhr Besuch bekommen. Keine Hundert Meter voneinander entfernt lebten die Profi-Diebe im Bahretal mit ihren Familien. Sie lassen sich widerstandslos festnehmen.

„Das sind alles keine Einzeltäter, sondern organisierte Banden, die deutschlandweit arbeiten“, sagt Bundespolizei-Ermittler Thomas Schulze*. Der Mittvierziger ist spezialisiert auf Serien-Diebstahl und hat das letzte große Babybrei-Ermittlungsverfahren geleitet. „Da geht es oft auch um Drogen oder Waffen.“ Und komplexe Strukturen von organisierten Banden und Hehlern. Sieben Kriminalisten hatten ein Jahr im Verfahren Kina 2 (Kindernahrung) ermittelt, bis sie mit einem Großaufgebot im Januar 2017 zuschlugen, sagt Schulze.

600 Beamte hatten in Dresden, Leipzig, Freital, Radeberg, Striegistal, Freiberg und Halle an der Saale 31 Wohnungen, Geschäfte und Asylbewerberheime durchsucht. Vier Vietnamesinnen im Alter von 41 bis 51 Jahren, eine 31-jährige Lettin und zehn Georgier im Alter von 26 bis 38 Jahren waren dabei festgenommen worden.

Schulze, in Jeans und mit Strubbelhaar, verfolgt den Großeinsatz am Dienstag vom Schreibtisch aus, der in einem Büro im Dresdner Zentrum steht. Hier wachsen Erkenntnisse mobiler Observierungseinheiten und überwachter Telefone zu Akten. Die Jalousien sind so gedreht, dass niemand hineingucken kann.

Diesmal sind 180 Kollegen von Schulze in Pirna und Umgebung im Einsatz. Neben den Verhafteten stehen auch noch der vietnamesische Partner der Frau und ein weiterer Vietnamese im Fokus der Ermittlungen. Einer soll über eine Scheinehe mit einer Deutschen eingereist sein. Dazu entdecken die Polizisten in der Wohnung der Frau ihre Mutter und im Laden in der Altstadt einen Mann aus Vietnam. Beide haben keine Aufenthaltserlaubnis.


Beamte vor den Geschäften der mutmaßlichen vietnamesischen Hehlerin.
Beamte vor den Geschäften der mutmaßlichen vietnamesischen Hehlerin. © Paul Sander


Ermittlungen zu organisierten Banden dauern. Die Sache mit den georgischen Dieben hat System. Seit Jahren. Schulze geht davon aus, dass meist Männer in Georgien zielgerichtet für Diebstähle in Deutschland angeworben werden. Manche reisen ein, werden bei Straftaten erwischt und abgeschoben, bekommen eine Einreisesperre und stehen trotzdem kurz danach wieder an der Grenze. Seit 2017 dürfen Georgier visafrei für drei Monate einreisen.

Sie wüssten genau, dass ihr Asylantrag nicht durchgeht, die Anerkennungsquote liege bei nahezu Null. Die Gefahr, ertappt zu werden? Ebenso. „Von Hundert Diebstählen werden die vielleicht einmal erwischt“, sagt Schulze. Ist das frustrierend? „Im Fall Kina 2 hätten wir unendlich weiter ermitteln können.“ Mehrere Monate hatten Polizisten vietnamesische Hehler-Läden und Lager im Dresdner Stadtteil Cotta beobachtet.

Allein in einem davon haben bis zu 20 Georgier-Banden aus dem ganzen Bundesgebiet angeliefert. 57 Autos und noch mehr Diebe. Manche fuhren zweimal am Tag vor, voll mit Milchpulver, Zigaretten und Kaffee. Andere kamen zu Fuß mit vollen Beuteln und gingen mit leeren. Zwischendurch kamen zwei Polen und holten den Kaffee zum Schnäppchenpreis ab.

Egnate Jughashvili* ist einer der 15 Täter, die 2017 festgenommen wurden. Der 39-Jährige hatte in Georgien zehn Jahre wegen Mordes gesessen. Danach legte er sich eine neue Identität zu und kam im November 2013 illegal in die Bundesrepublik. Am Ende sind gegen ihn 35 Delikte in weniger als zwei Jahren registriert worden, darunter räuberischer Diebstahl in Freital, Drogenhandel in Bayern, Diebstahl in Torgau und Leipzig, Bandendiebstahl in Thüringen, Mittelsachsen, der Lausitz und Dresden, ein Raub in Bremen.

Jughashvili geht oft mit seiner 33-jährigen Freundin aus dem Baltikum auf Tour, die 2013 mit ihrem heute elf Jahre alten Sohn einreiste und in Freital lebt. Auf die Frau sind sechs Autos zugelassen, darunter ein Fünfer und ein Siebener BMW. Ein eingespieltes Team. Im November 2016 fahren sie mit zwei Georgiern mit den BMWs nach Reichenbach im Vogtland. Im Kaufland stehlen sie 50 Zigarettenschachteln und steuern danach noch vier Supermärkte in Zwickau, Meerane, Schmölln und Zeitz an. Gesamtdauer: vier Stunden, Hehlerwert: 750 Euro. Lohnenswert: Das ganze sechs Tage die Woche, Hartz-IV-Leistungen als Asylbewerber noch nicht eingerechnet.

Immer abends liefert das Quartett die Zigaretten bei einer Vietnamesin in Dresden-Cotta ab. Dort gehen pro Tag 20 Ladendiebe ein und aus und bringen tütenweise Babynahrung, Zigaretten, Kosmetik oder Kaffee. Immer wieder fahren Autos vor, aus denen Kisten voller Diebesgut gegen Bares ins Haus getragen werden.

Manchmal ist auch der Sohn der Partnerin dabei. Er soll Kassiererinnen ablenken, während die anderen Zigaretten aus dem Regal an der Kasse stehlen. „Der hat einen großen Teddy auf das Kassenband gestellt und süß geguckt, so dass man dahinter nichts sehen konnte“, sagt Ermittler Schulze. Auch Säcke mit Katzenstreu oder große Stapel Töpfe werden als Sichthindernisse aufgestellt. Mancher Dieb verpackt 90 Schachteln in seine Hosen. Andere stopfen handstreichartig ein Dutzend Milchpulverpackungen ein und sind weg. Die Geschäfte merken das oft erst bei der Inventur.


Auch die Wohnung der Verdächtigen wurde durchsucht.
Auch die Wohnung der Verdächtigen wurde durchsucht. © Paul Sander


In kleineren Läden wie Parfümerien testen georgische Seriendiebe fast immer die Situation, erzählt ein Ladendetektiv aus Dresden. „Sie kommen rein, tun so, als stecken sie was ein und gehen zum Ausgang“, sagt er. „Wenn dann nichts passiert, greifen sie zu und auf einen Schlag sind Waren im Wert von 1 000 oder 2 000 Euro weg.“ Ein Muster, das sich täglich in Sachsen und anderen Ost-Bundesländern wiederholt.

Als Polizisten Jughashvili das erste Mal verhaften, fotografieren sie seine Tätowierungen. Auf dem Rücken drei Teufel, am Arm eine Schlange mit Dolch und achteckige Sterne auf der Brust, einer mit Totenkopf – es sind Symbole aus den Staaten der früheren Sowjetunion. Sie zeigen den Rang in der Verbrecherhierarchie. Der Teufel steht für: „Ich kenne das Gesetz sehr gut, bin erfahren und führe hoch qualifizierte Verbrechen aus.“ Der Stern heißt „Dieb im Gesetz“, eine oberste Autorität. Der Dolch mit der Schlange kennzeichnet den Anführer einer Diebesbande.

Sein Asylantrag wurde abgelehnt, seit Januar 2016 soll er abgeschoben werden – mit Einreisesperre für sechs Jahre. Stattdessen beging er weiter Straftaten. Er bekommt Geldstrafen und zehn Monate Gefängnis auf Bewährung. Verfahren in Dresden und Dippoldiswalde folgen. Für gewerbsmäßigen Bandendiebstahl gibt es 12 Monate Haft, ausgesetzt zur Bewährung für drei Jahre. „Normal müsste der schon während der ersten Bewährung sofort ins Gefängnis, wenn er auffällig wird“, knurrt Schulze. Im Fall von Jughashvili erzielen die Ermittler dann aber doch einen Erfolg.

Nach der Verhaftung wurde er in Dresden zu zwei Jahren Haft verurteilt, ging in Berufung, aber das Landgericht brummte dem Mann sogar zweieinhalb Jahre auf. „Dabei ist der nur für neun Taten belangt worden, bei einer Dunkelziffer, die über 100 liegen dürfte“, sagt Schulze. „Der gehört eigentlich für mindestens fünf Jahre weggesperrt.“ Aber Ermittler sind keine Richter und so kämpfen Polizisten wie Thomas Schulze immer wieder um Motivation und gegen Frust. „Egal wie lange es dauert, wenn die irgendwann rechtskräftig verurteilt sind, das ist meine Motivation, aber die Strafen müssten um einiges höher sein.“


Im Gemüsegeschäft der Verdächtigen drehen die Ermittler jede Kiste um.
Im Gemüsegeschäft der Verdächtigen drehen die Ermittler jede Kiste um. © Paul Sander


Selten wird es auch mal lustig für die Ermittler. Als im Dezember 2016 über den Prozess gegen acht Georgier in einer Tageszeitung berichtet wird, guckten die Polizisten den vietnamesischen Hehlern dabei zu, wie sie Zeitung lasen und immer nervöser wurden. „Die waren richtig entsetzt.“

Aber der Profit war zu verlockend. Bis Januar 2017. Nach der Großrazzia gingen für ein paar Monate neben den Ladendiebstählen auch die Einbrüche in der Umgebung zurück – bis die nächsten Georgier in das „Geschäft“ einstiegen. Für die Bundespolizei war und ist Dresden bis heute die bundesweite Hehlerzentrale mit Direktanbindung nach Tschechien „Wir gehen davon aus, dass jeden Tag mindestens ein Auto voll mit Diebesgut nach Tschechien fährt“, sagt Schulze.

Die jetzt in Pirna verhaftete Vietnamesin kann das vorerst nicht mehr. Ihr Audi A6 wurde eingezogen, ebenso ihr Transporter, rund 28 000 Euro Bargeld und die Konten und Versicherungen sind gepfändet. Vermögensabschöpfung von Tätern nennt das die Justiz. Denn kein Geld und kein Besitz – das tut gerade in der organisierten Kriminellenwelt so richtig weh.

*Namen geändert