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Wie die Spanische Grippe Görlitz traf

Geschlossene Schulen, keine Veranstaltungen: Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges kam eine Epidemie neuen Ausmaßes nach Ostsachsen.

Von Maximilian Helm
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Hunderte griechische Soldaten starben in Görlitz an der spanischen Grippe.
Hunderte griechische Soldaten starben in Görlitz an der spanischen Grippe. © Städtischer Friedhof

Es ist 1918, das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges. Ganz Europa leidet unter den Folgen der Kämpfe, die Bevölkerung im Deutschen Reich hungert. Vor 1914 war man der weltgrößte Importeur von Nahrungsmitteln gewesen, durch Blockaden und Handelsembargos ist man nun auf sich allein gestellt. 

Der Hungerwinter 1916/17 geht als "Steckrübenwinter" in die Geschichte ein, benannt nach der eigentlich zur Viehmast angebauten Knolle, die im Deutschen Reich zum wichtigsten Nahrungsmittel wurde. Manche Deutsche nennen sie "Hindenburg-Knolle". Galgenhumor angesichts der aussichtslosen Lage.

Diese Gedenkstätte auf dem Görlitzer Friedhof wurde für gefallene Soldaten im Ersten Weltkrieg errichtet.
Diese Gedenkstätte auf dem Görlitzer Friedhof wurde für gefallene Soldaten im Ersten Weltkrieg errichtet. © Pawel Sosnowski

In Görlitz erscheint damals sechsmal wöchentlich die Tageszeitung "Görlitzer Nachrichten", die fast vollständig in der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften erhalten ist. Die Zeitung kostet 3,15 Mark -  im Vierteljahr. Sie enthält nationale Politik, Anzeigen und lokale Themen. 

Doch: ob deren erste vier Seiten damals überhaupt gelesen werden? Sie bestehen fast vollständig aus Kriegsberichten, häufig Mitteilungen von der Obersten Heeresleitung und sind stets überschrieben mit not-euphorischen Zeilen wie "Der erneute Ansturm des Feindes bei Cambrai gescheitert" oder "Deutscher Vorstoß in Flandern erfolgreich".

"Kurze schwere Krankheit"

Erst auf den hinteren Seiten findet sich lokale Berichterstattung. Sie geben einen Einblick, wie das Görlitzer Leben damals war, voll von Hunger und Not, aber auch mit Werbung für Theaterstücke und die neuesten, besonders hochwertigen Pelzwaren. In Kriegszeiten sind auch Todesannoncen an der Tagesordnung, gefallene Soldaten sind durch ein Eisernes Kreuz gekennzeichnet.

Die Redaktion der Görlitzer Nachrichten vor dem Ersten Weltkrieg.
Die Redaktion der Görlitzer Nachrichten vor dem Ersten Weltkrieg. © Ratsarchiv Görlitz

Doch ab dem Frühjahr 1918 fällt etwas auf: Häufig werden Menschen jüngeren und mittleren Alters betrauert - ohne Eisernes Kreuz. Im September stirbt das als "fürsorgende Tochter" beschriebene Fräulein Adelheid Petzold, die 45-jährige Meta Meisner stirbt ebenso wie der 44-jährige Lehrer und Kantor Oskar Kubatzky. Ihre Annoncen eint eine Beschreibung: Sie seien nach "kurzer schwerer Krankheit" verstorben.

Mehr Todesopfer als der Krieg

Heute hat die Wissenschaft eine solche Krankheit im konkreten Verdacht: die "Spanische Grippe". Sie kam nicht aus Spanien, sondern aus den USA, und trat in drei Wellen im Frühjahr 1918, im Herbst/Winter 1918 und mancherorts noch einmal im Frühjahr 1919 auf. 

Laut Weltgesundheitsorganisation fordert sie allein während der zweiten Welle zwischen 25 und 50 Millionen Todesopfer und damit mehr als der Erste Weltkrieg insgesamt. Ähnlich viele Tote verzeichnet auch die Pest zwischen 1346 und 1353, allerdings während einer deutlich bevölkerungsärmeren Zeit, weshalb dem "Schwarzen Tod" ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fallen.

2.000 Trauergäste

Erreger der Spanischen Grippe war ein Influenzavirus der Gruppe H1N1, ähnlich dem, der vor zehn Jahren unter dem Namen "Schweinegrippe" grassierte. Die Symptome sind die "üblichen" bei einer Grippeerkrankung: Fieber, Gliederschmerzen und Erkrankungen der Atemwege. Doch es gab eine Besonderheit: Vor allem während der zweiten Welle sucht die Krankheit hauptsächlich 20- bis 40-Jährige heim, die sonst weniger zur bedrohten Gruppe gehören.

Im Herbst 1916 kommen mehrere Tausend griechische Soldaten nach Görlitz.
Im Herbst 1916 kommen mehrere Tausend griechische Soldaten nach Görlitz. © MDR/Ratsarchiv Görlitz

Sehr breite Aufmerksamkeit erlangt die Krankheit im April 1918. Zwei Jahre zuvor werden mehrere Tausend griechische Soldaten als "Gäste der Reichsregierung" in einer Barackensiedlung bei Görlitz untergebracht, weil sie weder auf Seite der Mittelmächte, noch auf Seite der Entente am Krieg teilnehmen wollen. Ihre Führung obliegt Oberst Johannes Chatzopulos.

Einige bleiben länger in Görlitz und beginnen hier zu arbeiten. Die Deutsche Kriegsgräberfürsorge zählt 133 begrabene griechische Soldaten. "Die meisten von ihnen starben an der Spanischen Grippe", schreibt sie. Auch Oberst Chatzopulos soll am 17. April der Krankheit zum Opfer gefallen sein. Andere Quellen sprechen hingegen von einem Herzinfarkt. Zu seinem Begräbnis in Görlitz kommen mehr als 2.000 Gäste. Auch viele Deutsche nehmen Anteil.

Tausende Görlitzer und Gäste betrauern den Kommandanten des IV. Griechischen Armeekorps, Oberst Johann Chatzopulos, im April 1918.
Tausende Görlitzer und Gäste betrauern den Kommandanten des IV. Griechischen Armeekorps, Oberst Johann Chatzopulos, im April 1918. © MDR/Ratsarchiv Görlitz

Der Rest des Jahres wird vom immer aussichtloser werdenden Krieg überschattet. Dennoch finden sich in den alten Ausgaben der Görlitzer Nachrichten viele Spuren der Spanischen Grippe. So heißt es in einer abgedruckten Mitteilung des damaligen Amtsarztes: "Willst du andere mit Speisen laben, so mußt du reine Hände haben." Ein Hinweis, der uns auch 2020 nicht unbekannt vorkommt.

Schulen dicht, Versammlungen verboten

Im Oktober 1918, wenige Wochen vor Ende des Krieges und in Zeiten höchster Not, ist auch die Grippeepidemie auf dem Höhepunkt. "Sämtliche Schulen in Görlitz bleiben in dieser Woche weiter geschlossen", schreiben die Nachrichten am 30. Oktober 1918. Allein bei der preußischen Staatseisenbahn seien wegen der Grippe 45.000 Beschäftigte arbeitsunfähig. Dabei sind Arbeitskräfte im kriegsgebeutelten Deutschland ohnehin Mangelware.

Eine Gedenktafel auf dem Görlitzer Friedhof erinnert an die hier verstorbenen griechischen Soldaten - viele von ihnen starben an der Spanischen Grippe.
Eine Gedenktafel auf dem Görlitzer Friedhof erinnert an die hier verstorbenen griechischen Soldaten - viele von ihnen starben an der Spanischen Grippe. © Pawel Sosnowski

Nicht nur Görlitz ist betroffen. In der Zeitung heißt es weiter: "Aus Bautzen meldet uns der Drahtbericht: Die Grippe nimmt an Zahl und Schwere zu. Die Amtshauptmannschaft Löbau hat für eine Anzahl Landgemeinden ein Verbot aller öffentlichen Menschenansammlungen einschließlich der Gottesdienste erlassen." Auch in Zittau gelten solche Verbote.

"Die Schuld trägt England"

Im November 1918 sind die Zahlen dann schon wieder rückläufig. Am 2. November heißt es in den Görlitzer Nachrichten: "Die Meldung an Erkrankungen beträgt etwa sechzig. Das ist ein geringerer Rückgang gegen frühere Meldungen, die meistens etwa achtzig betrugen." Im Dezember, nach Kriegsende, wird zudem über Forschungen berichtet: "In der Berliner medizinischen Gesellschaft hat der Kriminaldozent Dr. med. Erich Leschke über Versuche berichtet, den Grippeerreger zu züchten und die Krankheit mit den Kulturen zu übertragen."

Auch wenn der Krieg vorbei ist, die Propaganda ist es längst nicht. Anfang Dezember erscheint ein Zeitungsbericht, offensichtlich von der Regierung veranlasst, unter dem Titel: "Seit 11. November bereits 50.000 Menschen an Entkräftung gestorben." Darin geht es um die Zunahme von Todesfällen durch Mangelernährung und Krankheiten, wie der Tuberkulose, aber auch der Spanischen Grippe. 

Stellvertretend für die hunderten toten griechischen Soldaten in Görlitz wurden mehrere Grabsteine aufgestellt.
Stellvertretend für die hunderten toten griechischen Soldaten in Görlitz wurden mehrere Grabsteine aufgestellt. © Nikolai Schmidt

Laut des Textes gibt es einen klaren Schuldigen: "Dabei sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Hauptschuld an dem Zusammenbruche unserer Ernährung die Absperrungsmaßnahmen Englands tragen." Dieses Leid und das Schüren des Zorns gegen die Siegermächte hat seinen Anteil an der breiten Ablehnung des Versailler Vertrages von 1919. Und das bildet wiederum den Nährboden für das, was Deutschland und die Welt in den kommenden 20 Jahren erwarten würde.

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