Der Görlitzer Verkehrskollaps

So ein Anblick lässt auch einen erfahrenen Brummi-Fahrer nicht kalt: Der kilometerlange Stau auf der A4 lockt am Mittwoch Tomasz aus dem Führerhaus seines blauen Alta-Trans-Lasters. Kurz entschlossen lässt er das Fahrzeug auf der Autobahn stehen, klettert die Böschung an der Brücke zwischen Kunnersdorf und Zodel hoch und fotografiert den Stau. Seit 30 Stunden ist er nun inzwischen unterwegs, sagt er. Tomasz will nach Krakau. Er hat Glasscheiben für Autos geladen. "Essen und Trinken sind nicht das Problem. Aber die Toiletten", schildert er. Und der wenige Schlaf, den er bekomme. Dann steigt er ein und rückt mit seinem Lkw weiter, wieder ein paar Meter näher an die Grenze heran.
6.000 Portionen aus drei Feldküchen in Klingewalde
Mit Toiletten kann Alexander Peter auch nicht dienen. Die hat das DRK nicht im Angebot, wenn es im Stau unterwegs ist, so der Kreisbereitschaftsleiter des DRK Görlitz. Dafür geben die Helfer Essen an die Stauopfer aus: 6.000 Portionen kommen aus drei Feldküchen, die in Klingewalde aufgebaut sind. Bis nach Weißenberg reicht das Einsatzgebiet , bis an die Kreisgrenze. "Wir haben hier eine humanitäre Notlage, wie sie der Landkreis noch nicht erlebt hat", sagt Alexander Peter. Verpflegungsbeutel für den Tag und warmes Essen für den Abend kommen aus Klingewalde. Alle Kreisverbände des DRK, der Malteserhilfsdienst Görlitz und Feuerwehren des Kreises sind im Einsatz. Letztere verteilen am Mittwochnachmittag Essen im Stau an der B6 bei Görlitz.
Die Polizei sieht es als Erfolg, dass inzwischen alle Auffahrten zur Autobahn gesperrt sind. Pkw und auch Tiertransporte werden mithilfe der Motorradstaffel von der Piste gelotst. "Wir hatten zum Beispiel einen Transporter mit Kühen. Die mussten dringend gemolken werden", schildert Katharina Korch, Sprecherin der Polizeidirektion Görlitz.
Landkreis Görlitz wollte Zittauer Übergang öffnen lassen

Inzwischen ist auch die Politik aktiv geworden. "Wir haben mit dem zuständigen Woiwoden debattiert", sagt Martina Weber, Sozialdezernentin des Kreises Görlitz. Ihm sei gesagt worden, das beispielsweise das Fiebermessen mit dem Fieberthermometer einfach zu lange dauere und am Ende nichts bringe. Auch das Öffnen eines weiteren Grenzüberganges sei auf die Gespräche zurückzuführen. "Wir wollten den Übergang Stadtbrücke in Görlitz nicht öffnen, sondern den an der Zittauer Weinau", sagt Landratsbeigeordneter Thomas Gampe. Damit sollte der Stau in Görlitz vermieden werden. Das sei dem Woiwoden jetzt auch noch einmal mitgeteilt worden. "Eine Antwort steht noch aus", sagt Thomas Gampe am Mittwochnachmittag.
An der Stadtbrücke: Etwa vier Meter lang und knapp zwei Meter breit ist ein VW-Beetle-Cabriolet. In dieser kleinen, beige lackierten Blechkiste hat Jacob Kasziwicz die letzten 25 Stunden seines Lebens verbracht. Nicht allein: Seine Frau Agnes sitzt neben ihm, die kleinen Kinder Alex und Mischka turnen auf der Rückbank herum.
Nun steht die Familie vor der Görlitzer Stadtbrücke und hofft, wie hundert andere, nun endlich über die polnische Grenze gelassen zu werden. Das Ziel ist nicht mehr weit: Die Männer mit Schutzkleidung, die per Infrarot bei jedem Einreisenden Fieber messen, sind schon gut erkennbar.
Stau durch die Görlitzer Innenstadt
Ab Mittwoch zehn Uhr wurde die wegen des Coronavirus geschlossene Grenze hier wieder geöffnet. Die wegen der Kontrollen massiven Staus auf den Autobahnen sollten wenigstens etwas entlastet werden. Die Nachricht von der Öffnung der Brücke verbreitete sich lauffeuerartig: Schon kurze Zeit später hatte sich eine Autoschlange durch die Görlitzer Innenstadt, bis weit in die Goethestraße hinein, gebildet. Die meisten Wagen tragen polnische Kennzeichen.
Eine Grenzkontrolle mit Fiebermessung dauert schätzungsweise knapp eine Minute, es gibt eine gemeinsame deutsch-polnische Polizeidienststelle. Einreisen darf nur, wer ein "dringend notwendiges Anliegen vorzuweisen hat", heißt es von der Bundespolizei. Zigaretten kaufen gehöre nicht dazu. Auch Lkw stehen in der Schlange, obwohl sie es eigentlich nicht sollten. Nur Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen sollen passieren dürfen, heißt es seitens der Polizei. Abgefertigt werden sie trotzdem, berichtet ein SZ-Reporter. Auf der schmalen Brücke gibt es ohnehin keine Wendemöglichkeit.
Nichts geht mehr auf der Autobahn
Seit knapp anderthalb Stunden steht Jacob Kasziwicz mit seiner Familie hier schon im Stau. Doch haben sie bereits vier Stunden auf der Autobahn hinter sich. "Meine Familie in dem kleinen Auto war einem Polizisten aufgefallen, der gab uns den Tipp mit Görlitz", sagt Jacob Kasziwicz in perfektem Englisch mit breitem britischen Akzent.
Seit 15 Jahren lebt er in London. Dort fährt er eines der berühmten schwarzen Taxis und bringt Leute vom Großflughafen London-Heathrow Richtung Innenstadt. Doch in Zeiten des Coronavirus habe sich das geändert. Keine Flüge und keine Kongresse bedeuten für den gebürtigen Polen keine Arbeit. Er entschied sich, mit seiner Familie ein Auszeit in Polen einzulegen und zu warten, bis das Virus eingedämmt ist.

"900 Pfund hatte ich eigentlich für den Flug bezahlt, der wurde aber abgesagt", sagt Kasziwicz. Das sind umgerechnet 975 Euro. Von dem erstatteten Geld kaufte er für 1000 Pfund das winzige, beige-gelbe Auto und begab sich auf den Landweg. Von Erschöpfung ist jedoch wenig zu sehen. "Wurst, Wasser, wir haben alles was wir brauchen", sagt seine Frau Agnes und lacht. Auch die einjährige Tochter Mischka unternimmt vergnügt einige Kletterübungen.
Stau auf der A4 leicht verkleinert

Deutlich angespannter ist die Situation auf der Autobahn, wo einige Reisende bereits seit mehr als einem Tag festsitzen. Wie die Polizei meldet, hat sich der Stau um zehn Kilometer verkürzt, sodass das Ende jetzt zwischen den Anschlussstellen Uhyst a.T. und Salzenforst liegt. Trotzdem ist die Fahrzeugschlange immer noch mehr als 50 Kilometer lang. Bis zum Abend werden es wieder 57 Kilometer sein.
Polizisten patrouillieren hier mit Motorrädern, um die Rettungsgassen freizuhalten. Mittwochmorgen haben die Beamten die Lkw-Fahrer geweckt, damit diese die Lücken wieder auffüllen. Hilfe für die Feststeckenden kommt bereits seit gestern unter anderem von Deutschem Roten Kreuz und THW, die die Menschen mit Decken, Suppen und Getränken versorgen, bei Notfällen auch eingreifen. Zwei Patienten mussten laut DRK-Angaben aus dem Stau geholt werden, darunter eine Frau mit Herzinfarkt.
100 Einsatzkräfte in der Nacht vor Ort
„Das ist keine Lösung für die kommende Woche“, erklärte Kai Kranich, Pressesprecher des DRK-Landesverbandes Sachsen. In der Nacht seien die Temperaturen auf zwei Grad gesunken. Kranich spricht von einer „humanitär bedenklichen Situation“.
Seit rund 20 Stunden sitzen viele Lastwagen- und Autofahrer auf der Autobahn fest, weil sich der Verkehr wegen der Grenzkontrollen staut. Es brauche eine politische Lösung, fordert der DRK-Sprecher. Die Polizei rät bis auf Weiteres allen, die in Richtung Görlitz unterwegs sind, die Autobahn ab Dresden, wenn möglich, zu meiden.
Mit dem Autobahnstau verschärft sich auch die Verkehrslage um Görlitz täglich mehr. Die Lkw-Schlange - auch ein paar Reisebusse sind dabei - reicht schon auf der Umgehungsstraße B6 bis etwa Höhe Holtendorf. Auch hier stehen viele Leute neben den Fahrzeugen, es rückt einfach nicht weiter. Die Görlitzer sollten den Bereich weiträumig umfahren und es am besten über die Dörfer versuchen.
Keine Gelegenheit zu schlafen
Weil der Verkehr nicht komplett steht, sondern sehr langsam vorangeht, konnten sich die Fahrer auch in der Nacht nicht ausruhen. Mehrfach sei es zu Zwischenfällen gekommen, in denen Leute versuchten, über die Rettungsgasse ihre Vor-Fahrer zu überholen und so die Gasse blockierten. „Teilweise haben die Einsatzkräfte für eine Strecke von drei Kilometern bei der Versorgung deshalb eine ganze Stunde gebraucht“, so Kranich. Er erinnerte noch einmal daran, die Rettungsgasse freizuhalten.
Familie Kasziwicz hat es unterdessen bis zur Kontrolle geschafft. Fieber messen, ein Scherz mit dem Polizisten - seine Vollschutz-Montur fasziniert die Kinder ungemein. Jetzt warten noch mindestens sechs Stunden Autofahrt in die südpolnische Heimat auf die kleine Familie.

Die Rettungskräfte machen für die kommenden Tage eine düstere Prognose: "Wir denken nicht, dass die Reisewelle abbricht", sagt DRK-Sprecher Kai Kranich. Wegen des anstehenden Osterfestes seien viele Polen bereits auf der Heimreise. Etwa 100 Einsatzkräfte seien in der Nacht im Einsatz gewesen.
Am Mittwochnachmittag kündigte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) an, dass Polen für die Grenzkontrollen auf der A4 nun drei statt nur eine Fahrspur nutzen will.
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