Von Miriam Schönbach
Hier ein Interview für das Radio, da ein Vortrag vor Studenten am Sorbischen Ins titut, vielleicht noch ein Gespräch mit der Zeitung. Wenn Jurij Brankatschk im Urlaub in die Lausitz kommt, dann denkt er nicht ans Ausruhen. Der promovierte Neurobiologe ist ständig unterwegs.
Dennoch genießt er die Ferienzeit gemeinsam mit der Familie bei den Eltern in Rachlau. Es ist eine Rückkehr in die Heimat, die Jurij Brankatschk verlassen hat, als er vor über 30 Jahren zum Studium ging. „Aber meine Wurzeln sind hier“, sagt der Hirnforscher.
Aufgewachsen ist er am Fuße des Czorneboh, die alte Schule in Rachlau ist sein Elternhaus. Dort besucht er auch die ersten Klassen, die ersten beiden Stufen lernen damals noch in einem Raum. „Während die einen gearbeitet haben, machten die anderen Stillarbeit und hörten nebenbei zu. Ich habe das eher als Vorteil empfunden“, sagt der Wissenschaftler. Heute engagiert er sich für das sorbische Schulwesen, hält zum Beispiel Vorträge vor Eltern und Lehrern über das Lernen von Sprachen und die frühkindliche Entwicklung.
Mit 14 Jahren wechselt Jurij Brankatschk von der Dorfschule zur Sorbischen Oberschule in Kleinwelka. Gut erinnert er sich noch, wie er damals das Fahrrad sattelt, das Federbett kommt auf den Gepäckträger – und ab geht es ins Internat nach Radibor. Damals absolvieren die Oberschüler nebenbei noch eine Ausbildung zum Waggonbauschlosser. „Das war gar nicht so schlecht, denn für die Experimente in den Forschungslaboren muss ich ja auch heute immer ein bisschen basteln“, schmunzelt der 54-Jährige. – Nach dem Abitur will er zum Biologie-Studium an die Leipziger Uni. „In diesem Fach hatte ich fast nur Einsen, ansonsten war ich nicht so eine Leuchte“, blickt er zurück. Doch es kommt anders. Von heute auf morgen erhält der junge Mann das Angebot, in der Ukraine zu studieren. Der Familienrat wird einberufen, und beschließt: Diese Chance musst du ergreifen. Es bleibt nicht einmal Zeit, die Fahrschule zu beenden. Am 26. August 1970 steigt Jurij Brankatschk in den Zug in Richtung Donezk.
An der dortigen Universität mitten im sowjetischen Steinkohlegebiet weiß niemand, dass Studenten aus der DDR anreisen. „Wir waren die ersten Ausländer. Die Bergarbeiter lebten in so ärmlichen Hütten wie in den 20er Jahren. Von dem Fortschritt sahen wir nichts“, erinnert sich der Biologe. Die Stadt bietet nicht viel Kurzweil, Jurij Brankatschk entdeckt die Bibliotheken, liest Max Frisch und polnische Klassiker. Im vierten Semester hört er erstmals etwas von neurophysiologischen Methoden, spezialisiert sich auf diesem Gebiet.
„Wenn ich mit 18 Jahren nicht in die Ukraine gegangen wäre, wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin“, sagt er rückblickend. Die fünf Jahre in Donezk bleiben nicht der einzige Auslandsaufenthalt. Jurij Brankatschk forscht in Tiblissi, 1984 geht er ins ungarische Pécs. Dort erhält er eine Einladung nach New York. Der Neurobiologe traut seinen Ohren nicht, wagt aber den Schritt. Weihnachten 1987 liegt der Pass bereit, drei Monat später fliegt Jurij Brankatschk nach Brooklyn. „Naturwissenschaftler hatten damals eher einmal die Chance, ins nichtsozialistische Ausland zu kommen“, sagt der Forscher.
In den USA arbeitet er an seiner Habilitation. Nach einem halben Jahr freilich verspürt er wieder Lust auf Sauerkraut, nach einem Jahr kommt er mit gemischten Gefühlen an sein Heimat-Institut in Leipzig zurück. „Einerseits habe ich mich gefreut, wieder bei meiner Familie zu sein, auf der anderen Seite war das wissenschaftliche Arbeiten in den USA ungemein faszinierend, in der DDR fehlte mir diese elektrisierte New Yorker Stimmung.“
Labormanager in Aberdeen
Zehn Tage vor Mauerfall kündigt er, um nicht im „Leipziger Mief“ zu bleiben. Doch statt nach Magdeburg zu wechseln wie geplant, nutzt er die neuen Möglichkeiten und geht für ein Jahr nach Finnland. Vielleicht wäre seine Biografie nach der Wende anders verlaufen, wenn er geblieben und sich wie viele andere einen Platz in der neuen Forschungslandschaft gesichert hätte, sagt Jurij Brankatschk. „Aber für mich stand fest, an die Universität wollte ich nicht zurück.“
Stattdessen folgen Zwischenstopps an verschiedenen Forschungsinstituten in Deutschland. Und schließlich ist es wieder das Ausland, das den Wissenschaftler lockt. 1997 wechselt er für fünf Jahre an ein neues Hirnforschungszentrum in Japan. „Meine Frau hat sich an mein Fernweh längst gewöhnt“, schmunzelt der Vater von zwei erwachsenen Töchtern. Deshalb nimmt sie es auch gelassen, dass ihr Mann seit 2005 in Aberdeen Labormanager mit Forschungsschwerpunkt Alzheimer ist.
Zugleich engagiert sich Jurij Brankatschk im Präsidium der europäischen Minderheitenorganisation FUEV. Denn egal, wie weit die Heimat entfernt ist, das Sorbische liegt ihm am Herzen. „Es ist eine Welt, die Identität bedeutet.“ So hat der Forscher in seiner Freizeit zum Beispiel ein sorbisch-tschechisches Computer-Wörterbuch erstellt.