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Stern am Himmel über Chanov

Most. Zwischen schäbigen Plattenbauten warten die Roma bei Most auf das Leben. Das Kulturhaus hilft ihnen, es selbst zu suchen.

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Von Anneke Hudalla

Es gibt Fragen, die beantwortet Martin Nebesar nicht. Zumindest nicht mit Worten. Ob das, was er hier macht, eigentlich was bringt, ist so eine Frage. „Ich kann Ihnen da was ausdrucken“, sagt Nebesar statt einer Antwort. Wenige Sekunden später liegt eine Tabelle auf dem Tisch. „Kurs“, „Dauer“, „Angefangen“, „Beendet“, „Angestellt“ steht über den Zahlen in den einzelnen Spalten. Groß sind die Zahlen nicht. Trotzdem betrachtet Nebesar sie als Erfolg. Denn hinter jeder Ziffer verbirgt sich ein kleiner Schritt zur Behebung des größten sozialen Problems, das Tschechien plagt: Die mangelnde Integration der Roma.

Warten statt zu leben

„Waren Sie schon mal hier?“, fragt Nebesar. Die Frage ist nicht ganz unberechtigt. Denn Chanov, jener Stadtteil von Most (Brüx), in dem der Fünfzigjährige das „Roma-Kulturzentrum“ leitet, widerspricht fast allem, was man sich unter „Mitteleuropa“ vorstellt. Etwa zehn Plattenbauten neben einer vierspurigen Schnellstraße, 1 600 Einwohner, die alle der Roma-Minderheit angehören, 85 Prozent Arbeitslosigkeit – das sind die trockenen Fakten. Das Leben hinter diesen Fakten besteht vor allem darin zu warten. Zu warten, dass der Tag irgendwie vorbeigeht.

„Die Leute hier langweilen sich schrecklich“, sagt Nebesar. Tatsächlich sitzen an diesem Mittag Dutzende Menschen auf den kahlen Brachflächen zwischen den Häusern herum. Auf den Balkonen der heruntergekommenen Plattenbauten flattert Wäsche. Hinter den Häusern gammelt der Müll. Einige Wohnungen stehen leer. Die Nachbarn haben alles, was sich irgendwie gebrauchen oder zu Geld machen lässt, rausgerissen: Fenster, Holzverkleidungen, sämtliche Rohre. Es stinkt nach Urin. „Der einzige Weg, den Leuten hier zu einem besseren Leben zu verhelfen, ist Bildung“, sagt Martin Nebesar. Deshalb veranstaltet das Roma-Kulturhaus seit fünf Jahren Qualifikationskurse, um den Menschen eine kleine Chance zu eröffnen.

Es fehlt an Vorbildern

„Die Initiative zur Gründung unseres Kulturzentrums ging vom Arbeitsamt und dem Rathaus aus“, sagt Nebesar. „Die meisten Roma haben einen Hauptschulabschluss, aber zu einer berufsbildenden Schule melden sich pro Jahr maximal zwei oder drei Schüler an.“ Dass sich die Mehrheit der Schulabgänger sofort ins Netz der Sozialhilfe fallen lässt, liege vor allem daran, dass den jungen Leuten ein Vorbild fehle. „Da die Väter und die Nachbarn auch alle von Sozialhilfe leben, haben die Jugendlichen null Motivation, die Mühsal eines regelmäßigen Erwerbslebens auf sich zu nehmen.“ Doch die Langeweile, die mit der Arbeitslosigkeit verbunden ist, veranlasst früher oder später viele junge Leute dazu, an den Kursen im Kulturhaus teilzunehmen. Maurer, Maler, Hausmeister, Betriebsassistent für Sozialzentren – das sind die Berufe, in denen sich die Kursteilnehmer im Laufe von drei bis zehn Monaten ausbilden lassen können.

„Von den bislang 127 Teilnehmern haben 117 den Kurs abgeschlossen – und immerhin 42 haben danach eine Anstellung gefunden“, sagt Nebesar. Die meisten arbeiteten allerdings für das Roma-Zentrum in Chanov selbst. „Denn beim Zustand der Plattenbauten hier, ist immer irgendwo ein Hauseingang neu zu verputzen.“

Finanziert werden die Kurse durch die tschechische Regierung und die Europäische Union. Auf Hilfe aus Brüssel hofft Nebesar auch fürs nächste Projekt: Der ehemalige Supermarkt soll renoviert werden. „Wir wollen hier einige Lehrwerkstätten für die praktische Ausbildung einrichten“, sagt Nebesar. „Außerdem soll hier ein kleines Dokumentationszentrum für die Geschichte der Roma entstehen.“

Die eigene Kultur

Seiner Aufforderung, alte Fotografien oder Gegenstände zu spenden, sind bisher nur wenige Nachbarn gefolgt. Dabei wäre die Beschäftigung mit der eigenen Kultur für viele Roma sehr nötig, meint Nebesar: „Neulich hat mich doch ein Nachbar gefragt, was das hier über meinem Schreibtisch für eine Fahne sei“, sagt er. „Ich habe ihm gesagt: Das ist die Flagge der Roma. Und da hat er doch tatsächlich auf die Fahne der Europäischen Union gezeigt und gesagt: Ach die mit den Sternen hier, nicht wahr?“