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Stimme aus akadischen Sternen

Musik. Die kanadische Sängerin Marie-Jo Thério gibt am Sonnabend ein Konzert im Jazzclub Neue Tonne.

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Von Ingo Kolboom

Ihre Stimme hatte ich schon früher gehört, ohne auf die Worte zu achten, ohne zu wissen, dass sie dort im Osten Kanadas schon die Stimme eines aufgehenden Sterns war. Zärtlichkeit, Kraft, Melancholie, Zerbrechlichkeit, Wille… die Stimme eines Kindes, eines Mädchens, einer Frau. Dann erlebte ich sie erstmals live: in einem Musiktheater in der französischsprachigen Metropole Montréal. Ich sah, hörte sie an ihrem geliebten Piano, dem sie ihre Stimme in all diesen Nuancen schenkte, das eins wurde mit dieser Stimme, magisch vibrierend zwischen Folk, Rock, Pop und Chanson, zwischen Traurigkeit, Glück, Leichtigkeit, Humor und Fest. Und ich verstand, warum dem Reporter eines kanadischen Rockmagazins heiß und kalt wurde, als er sie erlebte: Marie-Jo Thério – „die Franko-Kanadierin zwischen Joni Mitchell, Suzanne Vega und Rickie Lee“, wie es in der Presse hieß.

Gesprengte Genre-Grenzen

Was unterscheidet sie von anderen bekannten Künstlern, an denen sie sich mit der verletzlichen Bescheidenheit des kleinen Mädchens aus dem kanadischen Neubraunschweig, das sie schon lange nicht mehr ist, immer noch misst? Ihre naive Quirligkeit und schüchterne Spontaneität, der man ihre vierzig Jahre nicht ansieht? Ihre Texte, die sie aus ihrem Migrantenleben zwischen Moncton, Montréal und Paris schöpft? Ihre authentische, wilde Poesie, die es schwer macht, sie einem Genre zuzuordnen? Dass sie auch Schauspielerin ist? Dass sie schon mit 13 Jahren ihre eigenen Lieder komponierte? Dass sie ein Literaturstudium absolvierte? Dass sie eine Frau ist, „in die sich alle, die sie kennenlernen, „verlieben“, wie einer ihrer Interviewpartner verlautbaren ließ?

Wiewohl ich in Marie-Jo Thério einen Menschen traf, dessen exzentrische Bühnenreife und mädchenhafte Virtuosität mich gleichermaßen in den Bann schlugen, so sehe ich in ihr vor allem die Akadierin. Will sagen, eine Künstlerin, die ihre Identität mit demselben diskreten, verletzlichen und sichtbaren Stolz in sich trägt, wie das kleine, hier so unbekannte französischsprachige Volk in Nordamerika, dem sie angehört und dessen Stimme sie verkörpert: die Akadier. Es ist ein Volk, dessen Wurzeln in das frühe 17. Jahrhundert zurückreichen, in das heutige kanadische Neuschottland, das die Welt damals Akadien (Acadie) nannte. Seiner zwischen den französischen Kanadiern und englischen Amerikanern aufblühenden Zivilisation wurde Mitte des 18. Jahrhunderts der Garaus gemacht, als die Briten beschlossen, ihre Kolonie von diesen katholischen, französisch sprechenden Fremdlingen zu säubern und alle Spuren der Erinnerung an sie auszulöschen. Ein ganzes Volk wurde eingefangen, zersplittert, auf Schiffen in alle Winde deportiert, auf winterlichen Stränden abgeworfen. Der akadische Lenz erstickte in den Tränen der Diaspora.

Doch die Überlebenden, es gab sie, trieb es von den weitesten Stellen in der Welt zurück in ihre verlorene Heimat, in ihren französischen Traum im englischen Amerika. Nach oft jahrzehntelanger Odyssee schufen sie sich ein auf der Landkarte unsichtbares Land, das sie wieder Akadien nannten.

Als französischsprachige, kulturell aktive Minderheit leben die meisten Akadier, mehr als dreihunderttausend, heute in den atlantischen Provinzen Kanadas, vor allem in Neubraunschweig, woher auch Marie-Jo Thério stammt. Diejenigen, die es über abenteuerliche Umwege nach Louisiana verschlagen hatte, kennen wir immer noch unter dem Namen Cajuns. Darüber hinaus gibt es eine weltweite akadische Diaspora. Ihr „genetisches“ Gedächtnis führt auf regelmäßigen Welttreffen wieder zusammen, was so lange getrennt war. Ihre Texte wie ihre Musik sind die unbeschreiblichen Gedächtnisorte ihrer Vertreibung, ihres Überlebens und des widerstehenden Lebens: Und dieses heißt Zärtlichkeit, Kraft, Melancholie, Zerbrechlichkeit, Willen, Traurigkeit, Glück, Leichtigkeit, Humor und Fest – so akadisch und so universell zugleich. Wie die Musik der Marie-Jo Thério. Wie sie selbst. Eine Stimme aus akadischen Sternen.

Das Konzert: Sonnabend, 21 Uhr, Jazzclub Neue Tonne, Königstraße 15

Der Autor ist Professor für Frankreichstudien und Frankophonie sowie Direktor des CIFRAQS an der TU Dresden. Mit Roberto Mann veröffentliche er „Akadien: ein französischer Traum in Amerika“ (Synchron Publishers, Heidelberg 2005).