Viel nackte Haut und ein paar tote Fische

Von Viktor Dallmann
Der prasselnde Regen der letzten Tage hat auch in Leipzig Pfützen hinterlassen, von denen manche genug Platz für ein paar umhertauchende Fische böten. Am Freitagabend schreckte das allerdings die wenigsten ab. Vorfreudig wippende Menschenschwärme wateten in Richtung Haus Auensee, um dem sechsten Stopp der Europatour von Till Lindemann und Peter Tägtgren beizuwohnen. Zuvor war deren Tour mit einer strengen Altersbeschränkung versehen worden – alle unter 18 müssen draußen bleiben. Die Erwartung einer provokanten Ekstase blies 3.600 Menschen ins ausverkaufte Haus Auensee.
Im Getümmel vermischen sich Spektakelsuchende aller Couleur. Vom gepiercten Metal-Kutten-Einzelgänger zur vorfreudigen Frauengruppe, von Eltern samt Spross in Lindemann-Leibchen und gelassen schmunzelndem Silberhochzeit-Paar, bis zum Vollbärtigen in Ganzkörper-Camouflage. Alle wollen sie Till Lindemann in vergleichsweise intimem Rahmen bestaunen.
Geschäftsmäßig huschen zwei Sanitäter durch Gruppenselfies vor dem Souvenirstand: Hier gibt es unter anderem einen „Doctor Dick“-Wodka, der ausschließlich nach dem Konzert erstanden werden darf – vorbildlich.
Dann beginnt Jadu die Menge mit weichmetalligen Militär-Chansons warmzuspielen. Deren Frontfrau, die neben hängenden Tarnnetzten performt, ist übrigens mit dem Rostocker Rapper Marteria liiert. Anschließend übernimmt die Amerikanische Elektro-Metal-Band Aeshtetic Perfection das Ruder. Sänger Daniel Graves kommt mit seiner weißen Jacke wie eine Mischung aus Michael Jackson und Marylin Manson daher.
Langsam steigt die Temperatur im Saal des Haus Auensee, die Menge drängt sich dichter zusammen. Auf der Leinwand hinter der Bühne beginnt ein Sepia-Filmchen: Lindemann läuft oberkörperfrei in einer Windel verpackt durch die Fußgängerzone, der Takt der Stummfilmmusik wird brav mitgeklatscht. Genug Intro: Nun stürmen Till Lindemann und sein Bandkollege Peter Tägtgren die Bühne.
Für den Rammstein-Frontmann und den schwedischen Multiinstrumentalisten ist es die erste gemeinsame Tour. Sie tragen weiße Kostüme, sind rund um die Augen schwarz geschminkt. Unzählige, in die Luft gereckte Smartphones filmen das saftige Riff von „Skills in Pills“ vom ersten Lindemann Album. Im Video drücken sich Pillenkapseln aus Poperzen.
Während Till Lindemann die Schaulustigen dirigiert, wird er von milchigem Licht in Szene gesetzt. Hinter der Anti-Marienerscheinung rekeln sich eingeölte, fettfaltige Körper auf der Leinwand. Schließlich tritt Lindemann den Mikrofonständer weg – das sollte noch häufiger passieren.
Beim Song „Frau & Mann“ werfen die fünf Bandmitglieder ihre Köpfe ekstatisch vor und zurück. Vor allem Till Lindemann wirkt wie das statuarische Artefakt seiner eigenen Band. Dann schmettert er das Mikro auf den Boden, verschwindet kurz und kommt mit einem neuen wieder.
Etwas Darbietung gefällig? Der Basslauf von „Allesfresser“ dröhnt und eine lange, mit Torten bestückte Tafel wird auf die Bühne gerollt. Natürlich folgt, was folgen muss – die Cremekuchen werden ins Publikum geworfen. Auf die Gefahr hin, dass Sahne auf der Linse landet, filmen etliche verzückt.
Lindemann ist ein skurriles Universum für sich. So hat der putzige Münzelefant, der vor dem Merchandise-Stand aufgebaut ist, einen Gastauftritt im begleitenden Video zu „Cowboy“.
Tatsächlich provokant wird es aber selten. Anscheinend rechtfertigt inszenierte Nacktheit die strenge Altersrestriktion. Bei „Golden Shower“ etwa flattern Schamlippen, als würden sie vom Schalldruck aufgeblasen. Und wenn Lindemann in einem Video oberlehrerhaft Lob und Tadel mit Hieben auf den Po ausspricht, so ist dieser pathologische Umgang mit Weiblichkeit – wenn auch ironisch – ein eher fades Mittel der Illustration.
Urplötzlich tauchen Lindemann und Tägtgren in einer riesigen, durchsichtigen Kugel auf und wandern innerhalb dieser übers Publikum. Selbstredend hat man das schon häufig gesehen, dennoch rasten die Fans beim Versuch, einen besonderen Kamerawinkel auf das Duo zu erhaschen, völlig aus.
Nach kurzer Verschnaufpause kommt nun das, was viele wohl schon sehnsüchtig erwartet hatten: Die Hitsingle „Fish On“ wird für eine Performance unterbrochen. Till Lindemann kommt mit einer aufklappbaren Trommel auf die Bühne und fummelt ein paar Forellen heraus. Diese schnallt er in eine Schleuder und katapultiert sie ins Publikum. Dort werden sie fröhlich weiter hin- und hergeworfen oder aber als glitschiges Andenken eingesteckt. Das ist zwar unterhaltend und skurril, aber nichts, worüber man sich aufregen müsste. Ein paar tote Fische sind wohl weniger abstoßend als weiträumig versprühtes Bier.
Gegen Ende wendet sich Till Lindemann ans Publikum: „Vielen Dank“. Und alle kreischen. Die Erscheinung hat gesprochen. Kurz verschwindet die Band, um von Zugabe-Rufen wieder hervorgelockt zu werden. Bei „Ach so gern“ und „Gummi“ brüllt die Menge um die Wette, dann war’s das.
Die Band verbeugt sich artig und ausführlich unter akzentuierter Theaterbeleuchtung – ein ausgesprochen ästhetisches Bild. Nochmal brummt Till Lindemann ins Mikrofon: „Vielen, vielen Dank. Danke.“
Beim Herausgehen dampfen die Körper in den Nachthimmel, die Beine sind noch etwas weich. Vereinzelt halten Fans einen schmalen Fisch fest umklammert wie ein unermesslich wertvolles Haustier – schnell ins Gefrierfach damit. Am Montag werden die Leipziger Tierpräparatoren wohl Hochkonjunktur haben.