Karol Gdanietz aus Reda in Polen wirkt gefasst und ruhig, als er vor dem Geschichts-Grundkurs der 11. Klasse des Gymnasiums Coswig sitzt und seine Geschichte erzählt. Obwohl er sich für sein schlechtes Deutsch entschuldigt, versteht man jedes Wort des 86-Jährigen, der während seiner Jugend fünf Jahre zuerst im KZ Stutthof im heutigen Polen, danach im KZ Sachsenhausen verbrachte. Auf dem Todesmarsch wurde er befreit. Doch die Erinnerungen bleiben. Ebenso bei der gebürtigen Polin Henrietta Kretz, 76, die aus einer jüdischen Familie stammt und in verschiedenen Verstecken die Zeit des Nazi-Terrors überlebte. Sie erzählt zur selben Zeit einer anderen Klasse von ihren Erfahrungen.
„Total interessant“
„So ein Zeitzeugenbericht ist total interessant“, sagt Sophia Schmidt, eine Schülerin der Klasse, die von Karol Gdanietz besucht wird. „Vor allem die Einzelheiten, wie die Erzählung über sein erstes Weihnachten im Lager“, ergänzt ihre Freundin Clara Schmidtgen.
Sabine Sachse, Fachleiterin der Gesellschaftswissenschaften am Gymnasium Coswig, sieht für ihre Schüler zwei klare Vorteile durch das Zeitzeugenprojekt: „Zum einen wird die Anonymität der Geschichte etwas aufgehoben. Zum anderen besteht die Möglichkeit einer „oral history“, das heißt, die Schüler können im Anschluss dem Zeitzeugen Fragen stellen.“ Und das tun sie in großer Zahl. Nachdem die Elftklässler rund eine Stunde den Erzählungen des alten Mannes ruhig zugehört haben, schnellt ein Arm nach dem anderen in die Höhe.
Beide Zeitzeugen werden von zwei Mitarbeitern des Maximilian-Kolbe-Werkes (MKW) begleitet. Das Werk engagiert sich für Überlebende der Konzentrationslager und Ghettos vor allem in Polen. Seit 1987 werden sogenannte Erholungs- und Begegnungsaufenthalte in Deutschland organisiert. Vor sechs Jahren entstand über einen solchen Aufenthalt der Kontakt zu Sachsens damaligen Ministerpräsidenten Milbradt, der die Verbindung zum sächsischen Kultusministerium herstellte. Dieses wiederum fragte bei den Schulen an, ob Interesse am Besuch eines Zeitzeugen vorhanden sei. So auch beim Gymnasium Coswig. Seit drei Jahren organisiert Sabine Sachse nun die Zeitzeugenprojekte für die älteren Geschichtskurse.
Das sichtbare Interesse der jungen Leute ist es, was für die Zeitzeugen eine Art kleine Belohnung darstellt. Doch fällt es nicht auch schwer, die eigene leidvolle Geschichte immer wieder zu durchleben? „Wer einmal angefangen hat, zu erzählen, hat die Schmerzgrenze überwunden“, so Gert Leitner vom MKW. Für die Zeitzeugen sei es eine Art „Vermächtnis für ihre verstorbenen Mitgefangenen“, ergänzt Henrietta Kretz. Trotzdem seien nur wenige der ehemaligen KZ-Insassen in der Lage, über ihr Schicksal zu sprechen. Das hat aber oft auch altersbedingte Gründe.
Karol Gdanietz jedenfalls strahlt, als ihm ein Schüler zum Dank für sein Kommen einen Blumenstrauß überreicht.
Anja Schubert