Ungewöhnliches Ständchen zum 101.

Radebeul. Sonnabend, kurz nach um elf. Gitarrenakkorde erfüllen den Innenhof des Radebeuler Seniorenwohnparks „Lößnitzblick“. Sie leiten ein ungewöhnliches Live-Ständchen ein. „Zum Geburtstag viel Glück“ schmettern die Sängerinnen und Sänger in Richtung eines hübsch bepflanzten Balkons im ersten Obergeschoss. Dort tritt eine betagte Dame an die Brüstung und hebt gerührt die Hände. Margareta Schild feiert ihren 101. Geburtstag.
„Ich bin überwältigt“, sagt die zierliche Jubilarin, als das erste Lied ausgeklungen ist und sich alle Blicke auf sie richten. „Ich bin etwas heiser, habe aber kein Corona.“ Die Musikanten lachen. Die Überraschung für das älteste Goldkehlchen in ihren Reihen ist geglückt. Margareta Schild wusste nichts davon. „Ich habe gestern die Stühle im Innenhof gesehen und gedacht: Donnerwetter, das muss etwas Besonderes sein. Aber mir fiel nur mein Geburtstag ein.“

Eingefädelt hat das musikalische Präsent Monika Wehmann, die die Singegruppe „Lößnitzblick“ leitet. Sie hat auch den MDR Sachsenspiegel angerufen, der tatsächlich gekommen ist und nun das Geschehen fürs Fernsehen dokumentiert.Proben konnte der Seniorenchor in Coronazeiten nicht. „Ich habe alle angerufen und die Lieder durchgegeben“, erzählt Monika Wehmann. Die Stühle der Sängerinnen und Sänger sind in mindestens 1,5 Metern Abstand aufgestellt. Darauf hat die Leiterin des Seniorenwohnparks, Katrin Hanitsch, genau geachtet. Auch hat sie, als alle eintrafen, Mundschutzmasken verteilt. Für die Gesprächssituationen vor und nach dem Singen.
„Das Virus ist hoch ansteckend“, hat sie vor dem Auftakt noch einmal in Erinnerung gerufen. Deshalb solle auch trotz der Masken beim Reden anderthalb Meter Abstand gehalten werden. „Sie sind vorbildlich, mit welcher Geduld Sie das ertragen“, ermutigt sie die Senioren, bevor diese mit ihrem kleinen Überraschungskonzert loslegen. „Es ist genial, was Sie sich da ausgedacht haben!“
Kunst bedeutet ihr viel
Margareta Schild genießt die nächsten beiden Lieder auf ihrem Balkon. Die Kunst im Allgemeinen und die Musik im Speziellen bedeuten der früheren Sekretärin viel. Als die Singegruppe 2012 in dem Wohnpark der Volkssolidarität Elbtalkreis-Meißen aus der Taufe gehoben wurde, gehörte Margareta Schild zu den Gründungsmitgliedern. Aktuell zählt der musikalische Kreis – wenn alle da sind – 35 Mitstreiter der Altersgruppe 60plus. „Frau Schild ist sehr eifrig“, sagt die Chorleiterin. „Und sie ist kaum krank gewesen in all den Jahren.“Die 101-Jährige nimmt keine Medikamente. Sie ist im Wohnpark bekannt dafür, täglich an der frischen Luft zu sein und ihre Runden zu drehen. Sommers wie winters in Sandalen. Und trotz Rollator „immer mit Turbo“, wie eine Bewohnerin ihren flotten Schritt umschreibt.
Nach dem dritten Lied verlässt Margareta Schild ihren Balkon und kommt zu ihren Sangesfreunden hinunter. Hier erwartet sie bereits ein gepolstertes Ehrenplätzchen. Wohnparkleiterin Katrin Hanitsch eilt mit einem übergroßen Blumenstrauß herbei. „So ein Jubiläum haben wir noch nie gehabt“, verrät sie, „bei so einer Gesundheit.“Nun lauscht die Jubilarin aus nächster Nähe ihrem Lieblingslied: „Amazing Grace“ mit deutschem Text. „Ich bin zu Tränen gerührt“, sagt sie. Margareta Schild hat früher auch Klavier gespielt. Heute machen ihre Finger nicht mehr mit. „Aber das Klavier steht noch da“, erzählt sie. „Das geht erst raus, wenn ich gehe.“
Kleines Buffet mit Sekt und Kuchen
Als sechstes und abschließendes Lied erklingt „Die Gläser erhebet“. Das ist das Stichwort. Zwei enge Freundinnen von Margareta Schild, beide Ärztinnen, haben ein kleines Buffet mit Sekt und Kuchen aufgebaut. Sie verteilen die Gläser. „Hoch soll sie leben!“, ruft Wohnparkleiterin Katrin Hanitsch. „Hoch! Hoch! Hoch“, erwidern alle im Chor. „Bleibt gesund“, prostet die Jubilarin. 1919 in Hamburg geboren, kam sie im Alter von einem Jahr nach Radebeul. Hier lebt sie inzwischen einhundert Jahre.
Vier Gesellschaftssysteme hat sie mitgemacht. „Aber eine Zeit mit Mundschutz habe ich noch nicht erlebt“, sagt sie unaufgeregt. „Ich merke allmählich, dass es ernst ist.“ Dennoch: Sorgen oder gar Angst macht ihr das Virus nicht. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich bin nicht alt. Ich bin urururalt.“ Auf das Sterben sei sie schon lange vorbereitet. „Aber wir können ja bis morgen warten. Man soll nichts übereilen.“ (ukl)
Die Autorin Ulrike Keller ist Pressereferentin der
Volkssolidarität Elbtalkreis-Meißen.

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