Wie der Traum von einer Uni die Europastadt retten könnte

Görlitz überaltert, durch die Abwanderung junger Menschen sinkt die Konsumnachfrage, auch die Zgorzelecer Bevölkerungsentwicklung ist zum Teil ungünstig. "Eine der Folgen des beschriebenen negativen Trends wäre zum Beispiel, die Grenzregion würde nicht die Völker verbinden, sondern immer mehr ,ausbluten' und so eher eine ,Risikogesellschaft' begründen." Für Herbert Oberste-Lehn stand fest, wie dieser Entwicklung wirksam zu begegnen sei: Durch die Gründung einer Universität Görlitz/Zgorzelec.
Oberste-Lehns Blick in die Zukunft ist 22 Jahre alt. Er äußerte sie damals als führender Görlitzer SPD-Politiker und Vorsitzender des Universitätsvereins Görlitz/Zgorzelec. In manchem sah er zu schwarz, aber seine Analyse enthält auch nach zwei Jahrzehnten manch tiefere Einsicht. Deswegen setzte sich der Hochschulprofessor schon damals für die Gründung einer Universität ein.
Viele positive Auswirkungen einer Uni für Görlitz
Er versprach sich davon einen Zuwachs bei der Konsumnachfrage, zusätzliche Investitionen in die Unigebäude, gut bezahlte Jobs in der Stadt, ein steigendes Steueraufkommen, positive Auswirkungen aus Unternehmen. Die Studenten würden sich positiv auf den Wohnungsmarkt auswirken, auf die Einnahmen von Kino und Theater. 5.000 Studenten schwebten ihm für die Uni vor. "Durch die Zuwanderung von mehreren tausend Studenten würde sich die negative Entwicklung der Bevölkerungs- und der Altersstruktur aufheben", fand er schließlich.
Wippels Vorschlag für eine Europa-Universität
Oberste-Lehn und sein Verein konnten sich aber nicht durchsetzen. Eine Uni gibt es bis heute nicht in Görlitz. Aber die Idee blüht immer wieder auf. Im letzten OB-Wahlkampf hatte sie AfD-Kandidat Sebastian Wippel wieder aufgegriffen und die Etablierung einer Technischen Europa-Universität Görlitz/Zgorzelec vorgeschlagen. Ihm schwebte vor, aus der heutigen Hochschule eine Uni mit rund 10.000 Studenten zu entwickeln.
"Im nationalen und sächsischen Maßstab haftet unserer Hochschule das Image eines Mauerblümchens an. Davon möchte ich weg. Das ehrgeizige Ziel muss lauten: Lasst uns eine Technische Europa-Universität gründen!", heißt es noch heute auf seiner Internetseite. Sein Vorschlag traf auf wenig Resonanz. Vielleicht kam er einfach von der falschen Seite?
Doch nicht nur Wippels Anregung hat dazu geführt, dass in diesen Tagen immer wieder von einer Universität die Rede ist. Die Ansiedlung von zwar außeruniversitären, aber hochambitionierten Forschungszentren in Görlitz wie dem deutsch-polnischen Casus oder dem Zweigcampus der Technischen Universität Dresden im Siemens-Gelände beflügeln die Fantasie. Die Hochschule Zittau/Görlitz und die Handelshochschule Leipzig haben ebenso ihre Hilfe angeboten, damit möglichst viele Firmen auf dem Innovationscampus Görlitz gegründet werden.
Genau darin sehen viele auch einen Zweck einer Universität: Hochqualifziertes Personal, ja Unternehmensgründer hervorbringen, um den Strukturwandel rund um den Kohleausstieg besser bewältigen zu können.
Vorbilder in Finnland, in Lüneburg und in Nürnberg
Es gibt dafür viele Vorbilder. Eines dafür ist Finnland. Als dort Nokia in seiner Mobilfunksparte vor zehn Jahren Tausende Arbeitsplätze abbauen musste, gründeten sich viele Start-ups, also kleine neue Unternehmen, die einen Großteil der Mitarbeiter auffingen. Möglich wurde das durch Zuschüsse seitens Nokia, aber auch durch die Universität von Aalto in Helsinki, die eine neue Generation von Unternehmern hervorbrachte.
Die Universität von Aalto ging aus der Fusion dreier bestehender Hochschulen hervor und vereinte die Studienrichtungen Design, Betriebswirtschaftslehre und Technologie. Jeder Student, so berichtete Risto Siilasmaa, einstiger Nokia-Chef, muss Kurse aus allen drei Bereichen belegen. Viele Studenten starteten Initiativen rund um das Thema Unternehmertum.
Gerade da tut sich die Hochschule Zittau/Görlitz schwer, wie auch der scheidende Rektor Friedrich Albrecht erst diese Woche im SZ-Interview bestätigte. Auch das Dresdner Wissenschaftsministerium drängt die Hochschule, auf diesem Gebiet mehr zu tun. Doch den Vergleich mit Finnland findet das Wissenschaftsministerium nicht sinnvoll. Sachsen hätte schon jetzt eine größere Unidichte als Finnland.
Bayern besonders mutig - Beispiel Nürnberg
Doch muss man gar nicht erst bis in den hohen Norden schauen, um Beispiele zu finden, wie Regierungen mit Universitätsgründungen Regionen einen neuen Entwicklungsschub geben wollen. In Lüneburg ging aus der Pädagogischen Hochschule die Leuphana-Universität hervor, die sich am angelsächsischen Uni-Modell orientiert, rund 10.000 Studenten hat und einen Campus, den der Star-Architekt Daniel Libeskind baute. Die Stadt macht heute einen quirligen Eindruck.
In Nürnberg betreibt der Freistaat Bayern derzeit alle Vorbereitungen, um eine TU Nürnberg zu gründen. Obwohl es bereits eine Technische Hochschule Nürnberg mit 13.000 und eine Universität Erlangen-Nürnberg mit 40.000 Studenten gibt.
In fünf Jahren soll es soweit sein: 5.000 bis 6.000 Studenten, 240 Professoren, Jahresbudget von rund 250 Millionen Euro. Für den Aufbau der TU Nürnberg sind 1,2 Milliarden Euro vorgesehen. Anders als an deutschen Universitäten sonst soll es keine Fakultäten, sondern Departments geben, in denen Geistes- und Technikwissenschaften zusammenfinden. Die Vorlesungen sollen auf Englisch gehalten werden. Das angestrebte Betreuungsverhältnis von 25 Studenten auf eine Professur soll der Uni die Studenten sichern, sonst liegt es im Bundesdurchschnitt bei 1:70.
Sachsen lehnt Uni in Görlitz ab
Trotz all dieser Beispiele bleibt der Freistaat derzeit aber bei seiner ablehnenden Haltung. "Das Wissenschaftsministerium sieht keine Chance für einen Vorstoß aus Görlitz, dort eine Universität anzusiedeln", teilte eine Sprecherin des Ministeriums gegenüber der SZ mit. "Eine solche Ansiedlung widerspräche sowohl dem Koalitionsvertrag als auch dem landesweiten Hochschulentwicklungsplan 2024."
Doch sind das alles Absprachen, die auch wieder geändert werden könnten. Sprach nicht die grüne OB-Kandidatin Franziska Schubert davon, Görlitz neben den drei Großstädten zum vierten Leuchtturm im Freistaat auszubauen? Sie ist jetzt Fraktionschefin der Grünen, einer der Regierungspartner in Görlitz. Und erklärte der Görlitzer OB, Octavian Ursu, in einem Zeitungsinterview vor Kurzem nicht: "Mit dem Strukturwandel sind für uns als Stadt Dinge möglich, die wir sonst nicht könnten."
Und weiter erklärte er auf Fragen eines Journalisten in der "Lausitzer Rundschau": "Wenn Görlitz boomt, profitiert der ganze Kreis. Görlitz ist der Motor dieser ganzen Entwicklung und damit sozusagen das urbane Zentrum des Strukturwandels." Tatsächlich hält sich Ursu gegenüber der SZ alle Optionen offen. Er setzt zunächst auf die Weiterentwicklung der Hochschule, auf die Verknüpfung mit den Forschungsinstituten, sagt aber auch: "Zu den verschiedenen Aspekten bin ich intensiv im Gespräch."
So lange sich aber kein gemeinsamer politischer Wille aus Görlitz heraus formt, ist die Lage nicht anders als 1998. Damals schon war eine Konkurrenz zwischen Hochschule und Uni befürchtet worden. Und der damalige Wissenschaftsminister sagte: "Die Idee einer Universität ist nicht sehr wirklichkeitsnah." Herbert Oberste-Lehn übrigens erlebte das Wiederaufflammen des Uni-Gedankens in Görlitz nicht mehr. Er starb im vergangenen Jahr in Cottbus.